»Frieda wird nicht weggehen, und niemand wird sie uns wegnehmen, mein Kleiner«, sagte sie ruhig, fast flüsternd. »Niemand wird irgendjemanden wegnehmen.«
»Aber der Pfarrer hat gesagt …«
»Der Pfarrer hat nur gefragt, warum Frieda nicht in den Kindergarten geht, und Mama hat entschieden, dass Frieda nicht gehen wird.«
»Die Leute hassen uns.«
»Niemand hasst uns, das hat Mama nicht so gemeint.«
Ich wusste nicht, wem ich vertrauen sollte. Natürlich wollte ich meiner Großmutter glauben, aber hieße das nicht, dass meine Mutter gelogen hatte? Dass sie den Pfarrer angelogen hatte? Mir war klar, dass man nicht lügen durfte, dass das bereits eine Sünde war, aber wie schwer wog es dann, wenn man den Pfarrer, also auf irgendeine Weise indirekt auch Gott anlog? Wäre das nicht noch schlimmer? Ich wollte nicht glauben, dass so etwas gerade passiert war!
»Aber dann hat Mama gelogen«, stieß ich hervor und sah unsere Großmutter ängstlich an, so als stünde die Vernichtung unserer Mutter durch himmlische Kräfte unmittelbar bevor.
»Mama hat auch nicht gelogen, vielleicht hat sie etwas übertrieben, aber doch nicht mit Absicht. Weißt du, wenn man manche Dinge nicht richtig versteht, glaubt aber fest daran, dass man recht hat, dann ist es keine Lüge, wenn man darüber spricht. Wenn du zum Beispiel glaubst, dass es draußen regnet, weil du ein Rauschen vor dem Fenster hörst, dann ist es nicht gelogen, wenn du Frieda sagst, dass es regnet, obwohl das nicht stimmt, weil es vielleicht nur der Wind in den Bäumen war, den du gehört hast, verstehst du?«
Ich nickte langsam und war noch verwirrter als zuvor. Was konnten wir tun? Wenn es jemanden im Dorf gab, der Lügen über uns erzählte, die jeder glaubte, wie konnten wir jemals wieder aus dieser Falle herauskommen? Wie konnten wir den Blicken, die uns die anderen zuwarfen, so als wären wir krank , wie es meine Mutter gesagt hatte, jemals begegnen, wie konnten wir den Leuten beweisen, dass wir nicht die Teufel waren, für die sie uns zu halten schienen? Ich fragte meine Großmutter.
»Seid, wie ihr seid. Überzeugt die anderen. Wenn sie merken, dass ihr völlig normale Kinder seid, wird das Gerede ganz schnell aufhören.«
»Und wenn sie uns ärgern?«
»Das wird ihnen schnell langweilig, wenn ihr euch nicht ärgern lasst.«
Das hörte sich so einfach an, ich wusste nicht, wie ich das hätte tun sollen, sich nicht ärgern lassen, aber in diesem Moment war ich gewillt, alles zu glauben.
Unsere Großmutter ging im Anschluss an unser Gespräch noch zu Frieda herüber und versuchte, auch sie zu trösten. Das schien nicht ganz so einfach zu sein wie bei mir, denn ich hörte meine Schwester mehrfach schreien, bevor sie sich endlich beruhigt hatte. Ich schlich durch den Flur und lauschte an der Tür, meine Schwester beschuldigte unsere Großmutter gerade, ihr verheimlicht zu haben, wie die Leute im Dorf über uns dachten.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass alle uns hassen?«
»Aber das tun sie nicht, Schätzchen.«
»Mama hat es gesagt!«, schrie Frieda.
»Aber der Pfarrer hat ihr widersprochen!«
»Der Pfarrer lügt!«
»Nein, das tut er nicht. Schau mal, eure Mutter glaubt nur, dass die Leute sie nicht leiden können. Sie hat eine schwere Zeit durchgemacht, und die Leute im Dorf haben ihr nicht geholfen, deswegen denkt sie jetzt, niemand könne sie leiden. Aber das stimmt nicht, die Menschen im Dorf waren genauso schockiert wie ihr, sie wollten euch deswegen auch lieber in Ruhe lassen und euch nicht noch trauriger machen dadurch, dass sie immer wieder nach Papa fragen. Das war vielleicht nicht das Richtige, weil ihr deswegen denken musstet, dass ihr den Leuten egal seid, aber das ist nicht die Wahrheit, das musst du mir glauben.«
Ich hätte ihr alles geglaubt, aber je länger sie sprach, desto düsterer erschien mir das Bild unserer Mutter in meinem Kopf. Konnte sie das, was unsere Großmutter uns da gerade erzählte, nicht auch wissen und begreifen? Warum musste sie jeden Blick missverstehen, umdeuten und Ablehnung, ja sogar Hass darin sehen, wo die Menschen doch nur Mitleid hatten und wahrscheinlich genauso hilflos waren wie wir?
Frieda ließ sich so leicht nicht beruhigen, aber ihr Widerstand war schon gebrochen, sie war geneigt, den Worten Glauben zu schenken. Eine Welt voll Hass, die sich gegen uns verschworen hatte, war einfach zu beängstigend, um nicht den letzten Strohhalm zu ergreifen, der einem die Sache in einem anderen Licht zeigen konnte.
»Der Mann im Dorf hat gesagt, Mama hat Papa umgebracht«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Der Mann ist ein Trottel«, sagte unsere Großmutter und lachte ansteckend. »Der Mann fand eure Mama früher sehr nett, aber sie wollte nichts von ihm wissen, deswegen ist er jetzt so gemein zu ihr.«
Danach musste nichts mehr gesagt werden. Ich weiß nicht, was hätte passieren können, wenn unsere Großmutter an diesem Tag nicht im Haus gewesen wäre, aber ich weiß, dass sie ihre Worte nur kurze Zeit später in mehrerer Hinsicht bereute.
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