Diese Zeit, in der mein Bewusstsein erwachte und meine Erinnerung dauerhaft einsetzte, war eine seltsam prägende Phase für mich, die mir aber nie sonderbar vorkam, denn ich hatte es ja nie anders erfahren, zumindest nicht bewusst. Meine Schwester unterschied sich in dieser Hinsicht von mir, sie war mir ein gutes Jahr voraus und hatte Zeiten erlebt, in denen sie frei, ungebunden und ohne Kontrolle auf dem Hof herumlaufen konnte, Zeiten, in denen wir in der Kirche vorne saßen oder in denen uns Leute auf dem Hof, auf dem noch Tiere gehalten wurden, besuchen kamen. Ich bin mir heute sicher, dass der Umschwung, den der Tod unseres Vaters für uns alle bedeutete, sie am härtesten traf und in ihr eine Änderung hervorbrachte, die sie zu Anfang stärker rebellieren ließ als mich, der die Veränderung kaum mitbekommen hatte, in der späteren Zeit aber umso gefügiger machte, was die Wünsche unserer Mutter anging. Ich weiß nicht, wie es passierte, vermute aber, dass Frieda ihren Hass auf unseren Vater projizieren konnte, um ihn so zu kanalisieren und letztendlich loszuwerden. Ich glaube tatsächlich, dass sie davon überzeugt war und auch heute noch ist, dass sie richtig handelte und dass die Einflüsse und das Äußere, alles das, was nicht zur Familie gehört, tatsächlich das ist, was sich im Unrecht befindet. Ich glaube auch, dass sie erfolgreich gegen das ankämpfen konnte, was sie aus früheren Zeiten kannte, als Vater noch lebte. So wie sie ihn mir gegenüber dargestellt hat, war er für sie das Tor zu einer vergifteten Freiheit, zu Dingen, die Spaß machen konnten, die man aber früher oder später zu bereuen hatte und die deswegen nicht gut waren. Und er als der Versucher und Verführer, als derjenige, der diese Dinge möglich machte, war deswegen ein nur zu leichtes Ziel für ihren Hass und die Abscheu, die sie zeigte, wenn sie später von ihm sprach. Aber über das, was in meiner Schwester vorging, kann ich nur spekulieren, ich weiß lediglich, dass all das, woran ich mich bewusst erinnere, für mich eine gottgegebene Natürlichkeit besaß. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anlass, an irgendetwas zu zweifeln, was in unserer Familie und darum herum vorging, es sollte noch Jahre dauern, bis die ersten Splitter in meinen Geist getrieben wurden, die ich nicht so einfach würde entfernen können.
Die Kirchenbesuche waren in dieser Zeit die einzigen Gelegenheiten, den Hof zu verlassen und andere Menschen zu treffen, wobei sich das Treffen darauf beschränkte, dass wir die anderen sahen und wahrnahmen, sie beobachteten, einschätzten und, basierend auf dem, was wir zu Hause praktizierten und lernten, auch bewerteten, aber ein wirklicher Kontakt fand nicht statt. Nach der Messe verließen wir aufgrund unseres Sitzplatzes oft als Erste die Kirche und machten uns sofort auf den Weg nach Hause, sodass wir keine Gelegenheit hatten, mit jemand anderem zu sprechen oder sogar zu spielen. Es gab einige Nachbarn mit älteren Kindern, die einen schnelleren Schritt hatten, und so kam es vor, dass uns ein paar Familien auf dem Weg zu unserem Hof überholten. Sie grüßten, wir grüßten zurück, man wünschte sich einen schönen Sonntag oder, je nach Anlass, schöne Feiertage, meine Großmutter wechselte vielleicht noch ein paar Worte über das Wetter oder die Ernte, aber damit war die Unterhaltung schon erschöpft, die anderen gingen weiter, wir sahen ihnen nach und dachten nicht weiter an sie. Zurück auf dem Hof war die größte Erleichterung, sich aus den sauberen Sonntagssachen herausschälen zu können. Mit ihnen wäre es unmöglich gewesen, zu spielen oder sogar auf dem Hof herumzulaufen, da immer peinlich darauf geachtet werden musste, dass sie schonend behandelt und niemals schmutzig wurden, damit sie möglichst lange hielten, was völlig unsinnig war, da wir ständig herauswuchsen. Aber vielleicht wurde so schon für kommende Generationen geplant, die die Kleidung erben und irgendwann auftragen würden. Wir wechselten also unsere Kleider, die Strenge und die Disziplin des gerade Erlebten fielen von uns ab, wir rannten herum und schrien so lange und so laut, bis uns unsere Mutter zurechtwies und anhielt, den heiligen Tag in Ehren zu halten.
Kapitel Fünf (außen)
Im Dorf dauerte es nicht lange, bis man verstanden hatte, was der Tod von Jakob Schiefer bedeuten würde. Er hatte zwar nur »eingeheiratet«, sein Einfluss war es aber, der den Hof hatte florieren lassen, und entgegen der Tradition übernahm seine Frau wie auch der Hof, den ihre Familie seit Generationen bewirtschaftet hatte, seinen Namen. Ihre Familie lebte vormals sehr zurückgezogen, doch mit der Hochzeit sollte sich das ändern, es war Jakob, der Verbindungen mitbrachte, Freundschaften und eine große Verwandtschaft, die er nicht müde wurde, auf den Hof einzuladen, sie aber auch in Anspruch zu nehmen, wenn Hilfe benötigt wurde. Diesen Verbindungen ist es zuzuschreiben, dass der Hof zum ersten Mal seit seinem Bestehen Gewinn abwarf, der nicht nur gerade dazu ausreichte, die Familie zu ernähren. Es konnten neue Maschinen angeschafft werden, mehr Tiere, modernere Fütterungsanlagen, und sogar ein Teil des Waldes sollte abgeholzt werden, um Platz zu schaffen für weitere Felder. Dazu sollte es nach Jakobs Tod nicht mehr kommen, und auch andere Veränderungen standen an. Es wurde nur zu schnell klar, dass Eva keine Schiefer war, sondern mit ihrem Gemüt immer noch der Familie Kluth angehörte, zu deren Art und Weisen sie zurückkehrte, sobald ihr Mann sie auf diese schreckliche Weise zu früh verlassen hatte. Die Gesellschaften auf dem Schiefer-Hof hörten auf, die Verwandtschaft kam nur noch selten und stellte die Besuche irgendwann ganz ein, als sie merkten, dass sie nicht mehr willkommen waren. Der Hof und seine Geschicke hatten unter Jakobs Leitung ein buntes Kapitel in der Geschichte der Familie Schiefer aufgeschlagen, das leider nur zu schnell wieder geschlossen wurde, jetzt gewann die Familie Kluth wieder die Oberhand. Und obwohl Eva ihren Namen nie wieder änderte, war es, als hätte sie es getan, denn mit dem Ablegen und Zurückweisen all dessen, was Jakob begonnen hatte, war es gleichsam, als hätte er nie existiert. Es gab nicht wenige, die den Verfall des Hofes insgeheim mit leichter Schadenfreude betrachteten, Mitleid war ihnen fremd.
Eva Schiefer erlebte den Zerfall ihrer Kontakte zunächst mit gemischten Gefühlen, aber schnell war ihr klar, dass es der Familie ihres Mannes nie um ihre Person gegangen war, sondern immer nur um den Hof. Wäre sie wirklich eine Schiefer geworden, würden ihre Verwandten ihre Entscheidungen nicht nur billigen, sondern sie auch mittragen. So aber wurde sie verlassen, zurückgelassen mit den Kindern und einer Schwiegermutter. Gerade der Umstand, dass die Mutter weiter bei ihr wohnen bleiben sollte, da ihre alte Wohnung bereits aufgelöst worden war und sie ja genug Platz hatte, wie die Verwandten nicht müde wurden, ihr klarzumachen, schürte ihren Hass nicht nur gegen die Familie, sondern auch gegen die Mutter ihres Mannes, die an den Ereignissen ebenso wenig wie sie selbst Schuld trug. Aber genau das war eben nicht allen klar, speziell die Familienangehörigen, die Eva verdächtigten, beim vermeintlichen Unfall ihres Mannes etwas nachgeholfen zu haben, empfanden es als gerechte Strafe, dass sie sich jetzt um seine Mutter kümmern musste. Diese sahen sie als Moralinstanz an, als letztes Bollwerk der echten Schiefers auf dem Hof, der jetzt ihren Namen trug, die letzte, die die Ordnung aufrechterhalten würde.
Eine Weile gab es noch Besuche, aber schnell hörten diese auf, nur Onkel Ernst machte dem Hof länger Aufwartungen und blieb auch noch, als die anderen sich bereits nicht mehr sehen ließen. Er gab vor, sich um seine Mutter kümmern zu wollen, obwohl diese anfangs noch rüstig genug war, um nicht nur für sich selbst zu sorgen, sondern auch noch auf dem Hof auszuhelfen. Doch schnell wurde klar, dass die alte Frau krank war und über kurz oder lang keine Hilfe mehr sein konnte, sondern eine Last werden würde. Diese allzu bekannte »Neuigkeit« trug Ernst den Verwandten zu, die sich in ihrer Entscheidung bestärkt sahen, Eva als Gegenleistung für das, was Jakob für den Hof geleistet hatte, die Pflege der Mutter zu übertragen. Als es erst so weit war, dass Eva den Hof nicht mehr richtig bewirtschaften konnte, einige Tiere starben und später Maschinen und Gebäude verfielen, mochte niemand mehr seine Entscheidung zurückzunehmen, im Gegenteil, man sah Eva in der Schuld, und schnell wurde der Schiefer-Hof bei den Stammtischgesprächen zum »schiefen Hof«, den niemand mehr besuchen mochte.
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