Jan Holmes - Nachbarn

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"Du kaufst kein Haus, sondern Nachbarn."
Karoline und Richard beziehen ihr neues Haus in einer Vorortsiedlung und müssen feststellen, dass man sich seine Nachbarn nicht aussuchen kann.
Während sich Karoline schnell in die neue Umgebung einfindet, bleibt Richard dort fremd, er zieht sich immer weiter zurück. Als er sich von einer Nachbarin zunehmend bedrängt fühlt, überschreitet er eine Grenze und muss fortan mit seiner Schuld leben – oder alles aufs Spiel setzen.
Eine Geschichte von Freunden und Gemeinschaft, beabsichtigt und zufällig.
Eine Geschichte von zu viel Nähe, von Konflikten und der grausamen Macht der Gruppe.

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Jan Holmes

Nachbarn

Jan Holmes

Nachbarn

Jan Holmes – Nachbarn

Texte und Umschlaggestaltung:

© Copyright 2021 by Jan Holmes

Umschlagfoto via Unsplash:

Annie Spratt (unsplash.com/@anniespratt)

Verlag: Jan Holmes

janhwriter@gmail.com – www.janholmes.de

c/o KJ Funke, Bechlenberg 61, 42799 Leichlingen

Druck: epubli

Du kaufst kein Haus, sondern Nachbarn.

- Türkisches Sprichwort

Teil Eins Ein neues Leben

Kapitel Eins – Der Umzug

Die Sonne schickte einen hellen Strahl durch den Spalt zwischen den Vorhängen, die noch nicht abgehängt waren, Staub zog träge durch das grelle Licht. Von draußen hörte man den scheppernden Lärm einer Baustelle, Presslufthämmer, das geräuschvolle Abladen von Schutt vor dem Gebäude, das seit einer ewig scheinenden Zeit saniert wurde. Richard blickte von seinem Bildschirm auf und schüttelte den Kopf in Richtung des Fensters, so als würde der Lärm ihm gelten und wäre einzig und allein dazu bestimmt, ihn von seiner Arbeit abzuhalten. Doch im nächsten Moment lächelte er, er dachte daran, dass sie es nur noch wenige Stunden hier aushalten mussten, dann wäre dieses Kapitel vorbei, diese Episode in ihrem Leben abgeschlossen. Karoline betrat den Raum, sah ihn auf einer Trittleiter vor zwei aufeinandergestapelten Umzugskartons an seinem Laptop sitzen und lachte unwillkürlich über sein improvisiertes Arbeitszimmer. Sie stellte sich hinter ihn, strich ihm liebevoll über das Haar und blickte auf ihn herab.

»Kommst du? Der Lastwagen ist gleich da.«

»Nur noch zwei Absätze.«

»Komm … Mirko weiß doch Bescheid, das kannst du auch später noch machen.«

»Ich will das fertig haben.«

Er nahm die Hände von der Tastatur, bog die Arme nach hinten und umschlang ihre Beine.

»Wir ziehen um«, sagte sie leise.

»Ich weiß.«

Er kniff sie in den Hintern, worauf sie mit gespieltem Schmerz kurz aufschrie und dann das Zimmer lachend wieder verließ. Die Nervosität war ihr dennoch deutlich anzumerken, schon eine Minute später kam sie erneut hereingeflattert, beschwerte sich, dass die Möbelpacker immer noch nicht da seien, verschwand wieder, holte einen Hocker und machte sich daran, die Vorhänge abzuhängen.

»Lass doch, ich mach das gleich.«

»Kümmere du dich um deine Texte, ich kann eh nicht still sitzen bleiben, alles andere ist fertig. Wann wollten die noch mal kommen?«

»Um zehn.«

Karoline antwortete nicht, sie wusste genauso gut wie er, dass es erst neun Uhr war und sie nichts anderes zu tun hatten, als einfach zu warten, aber gerade das fiel ihr besonders schwer, sie konnte nicht ruhig bleiben, sondern musste immer irgendetwas tun.

»Soll ich uns was zu essen holen?«, wollte sie schließlich von Richard wissen.

»Danke, ich habe keinen Hunger.«

»Du musst etwas essen, der Tag wird bestimmt lang.«

»Wir können uns etwas machen, wenn wir ankommen. Irgendwas in der Mikrowelle, oder so.«

»Okay.«

Sie ließ von den Vorhängen ab und verschwand wieder. Kurze Zeit später hörte Richard sie in der Küche hantieren und musste sich beherrschen, ihr nicht zuzurufen, sie solle die Kartons in Ruhe lassen. Er konzentrierte sich wieder auf seinen Text und versuchte, nicht an den Stress zu denken, der ihnen bevorstand. Bereits vor einigen Monaten hatten sie damit begonnen, ihre Habseligkeiten zu sortieren und Überflüssiges zu entsorgen. Zweimal hatten sie Dinge auf dem Trödelmarkt verkauft, waren mitten in der Nacht aufgestanden, hatten sich den halben Tag lang die Beine in den Bauch gestanden und waren am Nachmittag wieder nach Hause gefahren, ohne dass der Ballast deutlich an Masse abgenommen hätte. Sie hatten Dinge in Kleinanzeigen angeboten, anderes an Freunde und Bekannte verschenkt, vieles an eine gemeinnützige Organisation gespendet und noch mehr weggeworfen. Als sie schließlich in der Wohnung standen, in denen ihre Stimmen unnatürlich nachhallten, weil bereits alles von den Wänden entfernt worden war, was den Schall hätte brechen oder schlucken können, waren sie sich nicht sicher, ob überhaupt etwas fehlte. Die schiere Menge an Kartons war so überwältigend, dass sie sich fragten, ob nicht jemand heimlich noch ein paar Kisten dazugestellt hatte. Richard lächelte bei der Erinnerung daran und dachte kurz an all die Dinge, derer sie sich entledigt hatten. Es war ein langwieriger, komplizierter Prozess gewesen, ein kleiner Abschied bei allem, was sie in die Hand nahmen und bei dem sie abwägen mussten, ob es sie in ihr neues Haus begleiten sollte. Platz hätte es mehr als genug gegeben, aber sie wollten den Umzug zum Anlass nehmen, sich von überflüssigen Dingen zu befreien und unbelastet in ihr neues Leben zu starten. Es hatte viele Diskussionen darüber gegeben, was wichtig war, was überflüssig und woran nur unnütze Erinnerungen hingen. »Aber das hat Tante Erika mir geschenkt!«, war zum Beispiel einer von Karolines Einwänden gewesen. »Wann?«, hatte Richard gefragt, und sie konnte seine Frage nicht beantworten. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, eine ganze Kiste ausschließlich mit Erinnerungsstücken anzulegen, von jedem Verwandten und jeder Reise oder sonstiger Gelegenheit, aber jeweils nur ein einziges Stück. Ferner wurde vereinbart, dass sie diese Kiste nie mehr öffnen würden, es sei denn, das wäre unbedingt nötig. Und sollte das nach dem Ablauf von einem Jahr nicht passiert sein, würden sie die Kiste ohne weitere Diskussion entsorgen. Sie waren sich beide sicher, dass der andere dann Einwände erheben würde, weil ihm eben nach wie vor so viel an den Dingen lag, und so konnten sie sich beide in der Sicherheit wiegen, dass der andere doch noch einen Rückzieher machen würde, wenn es an der Zeit war, ihr Versprechen einzulösen.

Es klingelte an der Tür, und fast zeitgleich hörte Richard ein freudiges Quietschen aus dem Nebenraum, gefolgt von eiligem Trappeln im Flur, das seltsam donnernd widerhallte, dann das Öffnen der Tür. Karoline hielt sich an der Klinke der geöffneten Wohnungstür fest, lehnte sich zurück und blickte in ihr ehemaliges Schlafzimmer, in dem Richard immer noch ungerührt saß und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, was grandios scheiterte. Er hatte Mirko, seinem Chef, versprochen, dass er die Übersetzung für die neue Website eines mittelständischen Unternehmens der Nachbarstadt heute noch schnell erledigen und ihm umgehend zuschicken würde. Aber er sah jetzt schon, dass er diesem Versprechen kaum gerecht werden konnte, dafür war es einfach zu hektisch hier, jetzt schon, bevor der Umzug überhaupt begonnen hatte. Er sah in Karolines Gesicht, das seitwärts im Türrahmen hing, und stellte sich vor, wie es aussehen würde, wenn ihre Haare immer in diesem seltsamen Winkel abstünden. Er musste unwillkürlich lachen.

»Was ist los?«, fragte seine Frau, aber er antwortete nicht, sondern winkte nur ab.

Es dauerte einige Minuten, bis man ein erschöpftes Schnaufen im Treppenhaus vernahm.

»Vierte Etage Altbau«, murmelte Richard vor sich hin und grinste.

Karolines Kopf verschwand aus dem Türrahmen, als sie sich wieder zurückschwang und in das Treppenhaus blickte. Trotz des bereits deutlich vernehmbaren Atems war noch niemand zu sehen. Sie wunderte sich darüber, wie jemand, dem eine Treppe derart zu schaffen machte, Möbelpacker sein konnte, der eben diese Stufen nicht nur noch viele Male würde bewältigen müssen, sondern auch noch beladen wäre mit ihren gesamten Besitztümern. Schon sah sie mehrere kraftlos gestrandete Umzugshelfer keuchend im Treppenhaus liegen und nach Sauerstoff verlangen, als ein schmächtiger Bursche um die Ecke bog, der nicht den Eindruck machte, als könnte er mehr als eine leere Kindergartentasche tragen, ohne auf Hilfe angewiesen zu sein. Das Männchen brauchte einige Augenblicke, bis es sich äußern konnte, während Karoline ungläubig in das Treppenhaus starrte und auf weitere, deutlich muskulösere Menschen wartete, die ihrer Meinung nach jeden Moment folgen mussten.

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