Von Zeit zu Zeit trafen sich die beiden auf den Fluren und sahen jedes Mal abgekämpfter aus. Richard schleppte Kisten, was das Zeug hielt, und wunderte sich über die Menge, da sie vorher schon so viele Dinge verkauft hatten. Es machte den Anschein, als wären sie überhaupt gar nichts losgeworden und der Krempel hätte sich durch den Umzug nur noch vermehrt. Zwischenzeitlich hatte er die Umzugsfirma im Verdacht, einfach eine ganze Wagenladung von nicht abgeholten Kartons anderer Umzüge in ihr Haus gestellt zu haben, um die Sachen endlich loszuwerden. Der Plan, das Metallregal aus dem Schlafzimmer zu entfernen, musste vorerst auf Eis gelegt werden, da er sein Werkzeug nicht finden konnte und das Regal im zusammengebauten Zustand unmöglich durch die Tür, geschweige denn das Treppenhaus zu schaffen war. So bahnte er sich einen Weg durch die Kartons, die wild verteilt überall herumstanden, und bildete kleinere Stapel aus Kisten, die in dasselbe Zimmer gehörten. Zuerst hatte er die Idee, alle Kartons in den Keller zu schaffen, damit sie überhaupt Platz hatten, Möbel aufzubauen und einzuräumen, aber die Aussicht, alles erst einmal ein oder zwei Etagen nach unten schleppen zu müssen, nur um es dann nachher wieder in die andere Richtung zu transportieren, verleidete ihm diesen Einfall gründlich. So stapelte er diverse Dinge in thematisch geordnete Haufen und verfrachtete nach und nach alles in sein zukünftiges Arbeitszimmer, das im ersten Stock mit Blick auf den Platz lag. Nach hinten heraus lag das Schlafzimmer und sah auf einen kleinen Garten, der reichlich verwildert war und die nächste Baustelle sein würde, wenn sie erst einmal so weit waren, dass im Haus so etwas wie Ordnung eingekehrt war. Er blickte über die hohe Hecke an der Rückseite des Gartens und betrachtete das Haus, das dahinter lag. An diesem Morgen hatte ihm jemand von dort aus zugewunken, aber das schien schon eine Ewigkeit her zu sein. War es ein Mann oder eine Frau gewesen, oder sogar ein Kind? Er erinnerte sich nicht mehr, er hatte sich bloß ertappt gefühlt, als er nur mit seiner Unterhose bekleidet im Zimmer stand, und sich verschämt zurückgezogen. Warum eigentlich? Er war jetzt hier zu Hause, konnte er im Haus nicht machen, was er wollte? Aber insgeheim wusste er, dass das eine Illusion war. Solange noch jemand ins Haus blicken konnte, war sein privates Leben, auch wenn es in seinen eigenen vier Wänden stattfand, immer noch ein Teil öffentlich, und diesen Teil musste er den öffentlichen Regeln anpassen, wozu wahrscheinlich auch gehörte, dass man sich nicht zuwinken ließ, wenn man nur Unterwäsche trug.
Er entdeckte einen weiteren Karton mit der Aufschrift »Küche« und bugsierte ihn aus dem Schlafzimmer. Diese dämlichen Umzugsheinis waren wirklich zu blöd, dachte er verärgert Warum hatten sie sich eigentlich die ganze Mühe gemacht mit den Beschriftungen? Dann hätten sie auch alles in einen großen Container werfen und diesen vor ihrem Haus auskippen lassen können! Er beschloss, sich nicht weiter über diese unfähige Firma zu ärgern, und würde es Karoline überlassen, sich juristisch mit diesen Idioten auseinanderzusetzen. Auch wenn das Fachgebiet der Kanzlei, in der sie arbeitete, das Familienrecht war, konnte sie sich einer Ausdrucksweise bedienen, die jeden normal Sterblichen ratlos zurücklassen würde. Wenn Karoline los legte, würden die Möbelpacker aber die Ohren an legen, freute sich Richard schon jetzt und schob den Karton am Badezimmer vorbei auf die Treppe zu. Er blickte nach oben und fragte sich, wie schnell sie den Dachboden, der sich hinter einer Klappe versteckte, aus der man eine faltbare Treppe ziehen konnte, angefüllt haben würden mit Dingen, die sie nicht brauchten. Und er fragte sich weiter, wer es sein würde, der ihre Ein-Jahres-Regel tatsächlich einhalten und volle Kartons ohne einen weiteren Blick dem Sperrmüll überlassen würde. Er stemmte den Karton hoch, stampfte die Treppe herunter und ließ ihn in der Küche etwas zu krachend auf den Boden fallen.
»Hoppla, das waren wohl die Töpfe.«
Karoline stand in der Küche und hatte sämtliche Schränke geöffnet. Ratlos blickte sie von einem Schrank zum anderen.
»Gläser lieber hier über die Spüle oder auf die andere Seite, zum Herd?«
»Mir egal, räum doch erst mal irgendwo rein.«
»Und dann morgen wieder alles zurück? Ne, du.« Sie schüttelte den Kopf und stemmte unentschlossen die Hände in die Hüfte.
»Okay, ich hole auf jeden Fall mehr Sachen. Wenn du gleich nicht mehr aus der Küche rauskommst, bist du selbst schuld.« Er grinste. »Was machen wir eigentlich mit den leeren Kartons? Wollen wir die aufbewahren?«
»Die nehmen doch keinen Platz weg, lass uns die doch einfach zusammengefaltet auf dem Dachboden stapeln.«
»Alles klar.«
Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung vor einem der Küchenfenster, aber als er sich umgedreht hatte, war diese auch schon wieder verschwunden. Bevor er sich wundern konnte, jagte ihm die Türklingel erneut einen Riesenschreck ein.
»Neue Türklingel!«, rief er übermäßig laut.
»Ich weiß!«, brüllte seine Frau zurück.
Richard ging in den Flur, der jetzt noch enger schien als zuvor, obwohl er bereits gefühlte zweihundert Kartons durch diesen befördert hatte, und machte die Tür auf. Draußen standen zwei Frauen, eine zierliche Blonde mit langen Haaren, die freundlich und erwartungsvoll lächelte, und eine rundliche Dunkelhaarige, die etwas verkniffen dreinschaute und einen Säugling auf dem einen Arm trug, während sie in der anderen Hand einen Kuchen balancierte.
»Hallo, ich bin Chris«, sagte die Blonde und blickte sich plötzlich verstört um. »Und Emma ist gerade weggelaufen«, fuhr sie fort, drehte sich um und rannte über die Straße auf den Spielplatz zu. Richard stand abwartend in der Tür und war gespannt, wie das Schauspiel weitergehen würde, aber die andere Frau störte ihn dabei. Sie machte einen sehr jungen Eindruck, obwohl ihr Gesicht davon zeugte, dass sie in den letzten Monaten wahrscheinlich nicht gerade viel geschlafen hatte.
»Und ich bin Petra«, sagte sie endlich. »Das hier ist Fritz, aber er schläft gerade«, fügte sie entschuldigend hinzu und reichte ihm den Kuchen herüber.
»Für mich?«, fragte Richard dummerweise und kam sich gleich darauf sehr blöd vor.
»Für euch«, gab Petra zu bedenken, was Richard noch dümmer dastehen ließ. »Hallo«, sagte Petra noch einmal, was Richard zusätzlich verwirrte, aber in der Zwischenzeit hatte sich Karoline von hinten herangeschlichen und grüßte jetzt ebenfalls zurück.
»Wir wollen nicht stören, ihr habt bestimmt noch nicht ausgepackt. So sieht es jedenfalls durch das Fenster aus. Ich habe euch einen Kuchen gebacken.«
»Vielen Dank«, sagte Karoline, »wir würden euch ja hereinbitten, aber hier kann man kaum treten.
»Nein, kein Problem, macht ihr mal«, sagte Petra verständnisvoll und blickte sich jetzt suchend um, »eigentlich hatten wir auch noch eine Flasche Wein, aber Chris hat gerade irgendwie ihre Tochter verloren und muss die erst suchen.«
Richard wunderte sich, wie man ein Kind »verlieren« konnte, wagte aber, aus Angst vor weiteren Peinlichkeiten, nicht nachzufragen. Daher beschloss er, die Aussage einfach zur Kenntnis zu nehmen und ausdruckslos zu lächeln.
»Äh, ja, danke, das ist doch nicht nötig«, übernahm Karoline wieder das Ruder, und glücklicherweise verstand Petra es, die verfahrene Situation zu beenden, bevor es unangenehm wurde.
»Ja, also, herzlich willkommen, wir sehen uns ja sicher bald. Spätestens auf der Grillparty.«
Richard sah Karoline verständnislos an, aber die wusste offenbar auch nicht, wovon die Rede war.
»Grillparty?«
Jetzt war die Verwunderung auf Petras Seite.
»Ja, hat Harry euch denn nicht Bescheid gesagt?«
»Harry? Ach so«, meinte Karoline, »ja, also, nein. Er hat eine ganze Menge gesagt, aber von einer Grillparty war nicht die Rede.«
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