Karoline tippte Richard von hinten an die Schulter, woraufhin dieser erschrocken zusammenzuckte.
»Was machst du hier?«, wollte sie wissen.
»Ich sehe mir den Platz an.«
»Der ist toll. Besonders für Kinder.«
Er sagte nichts, nickte nur und legte ihr den Arm um die Hüfte. Ihre Familienplanung war bis zu dem Punkt gediehen, dass sie sich entschlossen hatten, dass sie es »versuchen« wollten, sobald sie alles eingerichtet und sich eingelebt hatten. Bis dahin würden sie beide weiterhin arbeiten und dafür sorgen, dass sich der kleine Berg an Schulden, der sich durch den Kauf des Hauses bei ihren Eltern angehäuft hatte, etwas verringerte. Wäre es nach Richard gegangen, würden sie immer noch in ihrem Altbau wohnen und dort auch so bald nicht ausziehen, aber durch gutes Zureden seiner Frau, ihrer beider Eltern und einiger Freunde, wurde seiner trägen Entscheidungsfreudigkeit etwas auf die Sprünge geholfen, und so hatten sie sich letztendlich entschlossen, ihre Zelte in der Innenstadt abzubrechen und umzuziehen. Es hatte einiges an Überzeugungsarbeit seitens Karoline gebraucht, bis ihr Mann einsah, dass sie die vielfältigen Möglichkeiten, die die Stadt bot, doch nicht wahrnahmen, dass sie abends doch viel zu müde waren, um noch auf ein Bier in die Altstadt zu fahren, ins Kino zu gehen oder andere Ausflüge zu machen. Und wenn es erst einmal so weit sein sollte, dass sie eine Familie gründeten, wäre es sowieso vorbei mit dem Nachtleben, das wussten sie aus allzu lebhaften Erzählungen von Karolines Schwester Marie, die sie mehr als einmal bekniet hatte, sie sollten ihre Freiheit ausnutzen, solange es noch möglich war.
Kapitel Zwei – Initiationsriten
Der Himmel zeigte sich in einem leuchtenden Blau, keine Wolke störte die endlos scheinende Fläche, die sich über die Welt spannte. Die Temperatur hatte sich kaum verändert, die Menschen und Tiere, die die Straßen entlanggingen, stießen Dampfwolken aus wie kleine Lokomotiven, die ihre endlosen Runden um den Platz und die Siedlung zogen. Das Haus, in dem gestern die Neuen angekommen waren, war von allgemeinem Interesse, man sah neugierig durch die vorhanglosen Fenster, allein, man konnte nichts erkennen, die beiden werkelten irgendwo unsichtbar im Inneren oder im ersten Stock und bemerkten nichts von dem schönen Wetter, das sie so freundlich willkommen hieß.
»Die schlafen bestimmt noch, hast du gesehen, wie spät der Laster gestern erst weg war?«, fragte Petra Eisenbach ihre Freundin Chris Obering, während sie auf der Bank am Spielplatz saßen und zusahen, wie Chris’ Tochter Emma sich ausdauernd Sand in ihre Gummistiefel schaufelte und Petra versuchte, ihren kleinen Fritz durch heftiges Schaukeln des Kinderwagens in den Schlaf zu wiegen, was gründlich misslang. Sie stand auf und nahm den Jungen aus dem Wagen, rümpfte daraufhin die Nase und fing an, in einer Wickeltasche nach den nötigen Utensilien zu angeln, die sie brauchen würde, um ihren Sohn trockenzulegen.
»Ne, wann denn?«, fragte Chris und fuhr fort: »Die standen aber eben schon am Fenster. Ich könnte auch nicht schlafen, wenn die ganze Bude voller Kartons steht.«
»Ich hab immer noch welche, die nicht ausgepackt sind, und wie lange wohne ich jetzt hier?«, lachte Petra, mit spitzen Fingern eine Windel zusammenrollend.
»Zweieinhalb Jahre nächsten Monat«, wusste Chris. »Woher weißt du eigentlich, wann die gestern fertig waren?«
»Das war doch nicht zu überhören, außerdem musste Max mir heute Morgen erst mal alles erzählen, bevor er losgerannt ist.«
»Ach der …« Chris schüttelte den Kopf und blickte zum Haus herüber, in dem Max Grohn wohnte, ein alleinstehender Mittvierziger, der sich einbildete, in der Siedlung so etwas wie der Dorfpolizist sein zu müssen. Jeden Morgen startete er zu einer Runde durch die Siedlung, angezogen wie ein harmloser Jogger, aber alle hier wussten, dass er es war, der Falschparker meldete und darüber wachte, wer den Bürgersteig nicht von Blättern und Schnee befreit hatte, wenn die Reihe an ihm war. So bestritt er seine morgendlichen Ausflüge kaum der Fitness wegen, auch wenn er nicht müde wurde, das zu beteuern und sich mit kostspieliger Ausrüstung zur Messung seiner täglichen Leistung zu behängen. Seine eigentliche Motivation war anscheinend eher die Kontrolle, ob Recht und Gesetz in seinem Revier befolgt wurden.
»Der hat bestimmt auch schon Tunnel unter dem Platz angelegt, um in alle Keller zu kommen und zu überprüfen, ob nicht jemand illegal Schnaps brennt oder so«, schnaubte Chris und drehte sich wieder dem neu bezogenen Haus zu. »Wer ist eigentlich Pate?«, fragte sie, als Petra zurückkam, die Windel in einer Hand haltend und ihren Sohn auf dem anderen Arm balancierend.
»Nicole und Harry.«
»Ah, stimmt. Waren die schon da?«
»Keine Ahnung, glaube nicht. Antonia ist aber auch immer noch krank, soweit ich weiß. Harry ist gestern noch spät zur Apotheke, um irgendein Wundermittel zu holen.«
Chris lachte laut auf, sagte aber nichts.
»Hör auf«, tadelte Petra sie mit einem Lächeln, das verriet, dass sie ebenso über die Angewohnheit der Guntermanns dachte, ihre Kinder ausschließlich mit Naturmitteln zu behandeln, was zur Folge hatte, dass diese wochenlang mit einer kleinen Erkältung herumliefen und ständig von einem zum anderen Arzt geschleppt werden mussten, bis auch dieser nicht mehr weiter wusste. In diesem Moment kam Max um die Ecke gebogen und schnaufte mit einem angedeuteten Winken an ihnen vorbei. Die beiden Frauen sahen ihm belustigt nach und wechselten dann einen vielsagenden Blick.
Petra war in der Schwangerschaft vom Vater ihres Kindes verlassen worden und die einzige alleinerziehende Mutter in der Siedlung. Sie war gerade einmal Mitte zwanzig, trug eine modische Hornbrille, war etwas untersetzt und wäre von einem Außenstehenden wahrscheinlich als »gemütlich« beschrieben worden. Sie hatte das Haus von ihren Großeltern geerbt und schon mehrfach geäußert, dass sie in der Innenstadt besser aufgehoben sei, hatte aber nie ernsthafte Anstrengungen unternommen, die Siedlung wirklich zu verlassen. Das lag zum einen daran, dass ihre beste Freundin ebenfalls hier wohnte, zum anderen, dass sie keine Lust hatte, sich um die Wohnungssuche zu kümmern, um die Vermietung ihres Hauses und alles, was sonst noch damit zusammenhing. Jetzt strich sie sich eine lange Strähne aus der Stirn und sah Max etwas neidisch hinterher.
»Auch wenn der Typ spinnt, jeden Morgen Sport, bei jedem Wetter … Respekt.«
Chris nickte anerkennend. »Das könnte mir auch nicht schaden.«
»Frag mich mal!«, lachte Petra und schlug sich mit der flachen Hand auf den Bauch. »Es gibt tatsächlich Frauen, die sehen direkt nach der Geburt schon wieder aus wie ein Hungerhaken, und dann guck dir mal das hier an.« Sie pikte mit ausgestrecktem Finger in ihren Bauch, der durch die dicke Jacke so vollständig verdeckt war, dass man ihren Umfang gar nicht erkennen konnte.
»Ach komm …«, sagte Chris und lehnte sich entspannt zurück. »Morgen Harry!«, rief sie plötzlich und winkte jemandem zu, den Petra nicht sehen konnte, da sie gerade wieder an Fritz’ Kinderwagen herumwurschtelte, in dem der Kleine jetzt zufrieden lag und mit den Händen nach einigen bunten Holzperlen schlug, die über seinem Gesicht baumelten. Sie drehte sich um und winkte ebenfalls, was Harry als Einladung verstand. Er kam zu ihnen herüber, rieb sich die Hände und sah die beiden belustigt an.
»Bei dem Wetter schon draußen? Tapfer.«
»Du doch auch«, konterte Chris.
»Ja, aber ich wollte nur eben, ähm … Karo und Richie begrüßen«, meinte er verschmitzt.
»Nenn die bloß nicht so«, warnte Petra.
»Warum nicht? Hast du schon mit ihnen geredet?«, wollte Harry wissen.
Petra schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. »Richie ist ein total dämlicher Name, mach das bloß nicht. Frag die beiden erst mal, sonst bist du sofort unten durch.« Sie setzte sich wieder und schlug ein Bein über das andere. »Ich hatte früher mal eine Kollegin, Frederike, die habe ich aus Spaß mal »Freddy« genannt, da war aber was los!« Sie lachte bei der Erinnerung. »Die konnte man aber auch mit einem Mann verwechseln, vielleicht habe ich gerade da einen wunden Punkt getroffen.«
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