Jan Holmes - Unmenschen
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Jan Holmes
Unmenschen
Meier
Montagmorgen, fünf Uhr. Der Wecker schrillte Meier aus seinem unsteten Schlaf, in dem er von beunruhigenden Träumen geplagt wurde. Es war zwar schon über drei Monate her, dass er seine neue Wohnung bezogen hatte, trotzdem wusste er öfters nicht, wo er war, wenn er erwachte. Diese Momente der Desorientierung zwischen Schlaf und Wachen wurden seltener, machten ihm deswegen aber nicht weniger Angst.
Es war Herbst und trotz des Vollmondes noch dunkel in seinem kleinen Zimmer. Fröstelnd steckte Meier seine Füße unter der Decke hervor, suchte seine Hausschuhe und fand sie nach kurzem Umhertasten. Er hätte schwören können, sie am Vorabend so platziert zu haben, dass er direkt hätte hineinsteigen können, und doch musste er suchen. Er ärgerte sich über seine Ungenauigkeit und tastete nach dem Lichtschalter. Er hatte bereits mehrfach versucht, sich in der neuen Wohnung auch im Dunkeln zurechtzufinden und ohne Licht ins Bad zu gehen, war aber kläglich gescheitert und hatte sich blaue Flecke an den Schienbeinen zugezogen, weil sein Geist noch immer „zu Hause“ war. Dieses „zu Hause“ war das Haus seiner Eltern, in dem er geboren und aufgewachsen war, und dort hätte er mit verbundenen Augen jeden einzelnen Raum schnellen Schrittes durchmessen können, ohne ein einziges Mal anzustoßen, so sehr war die Lage jedes Möbelstücks in sein Gehirn gebrannt.
Meier blinzelte im aufflammenden Licht und griff nach der Türklinke. Nein, falsch, das war die Küche, nicht das Bad, im Haus seiner Eltern existierte alles an einem anderen Ort. Er ermahnte sich zu Aufmerksamkeit und schüttelte ungläubig den Kopf über seine eigene Dummheit.
Im Badezimmer war alles vorbereitet, ein dickes Handtuch lag vor der Wanne, um seine nassen Füße nach der Dusche in Empfang zu nehmen, ein weiteres hing, sorgfältig ausgerichtet, mittig über der Stange des Vorhangs, beide Seiten exakt gleich lang herabhängend, dabei aber so platziert, dass es beim Duschen nicht nass werden würde.
Wie alles in Meiers Leben folgte auch seine morgendliche Reinigungsprozedur einem genau festgelegten Plan. Er entkleidete sich, faltete den Schlafanzug sorgfältig zusammen und legte ihn auf den Rand des Waschbeckens. Er klappte den Deckel der Toilette hoch, riss einige Blätter Papier ab und wischte damit über die Brille, obwohl niemand außer ihm jemals dieses Bad benutzte. Er setzte sich, stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und das Kinn auf seine Handballen. Zufrieden lauschte er dem Plätschern, wartete eine angemessene Zeit, erhob sich, betätigte die Spülung, wartete, wischte erneut über die Brille und klappte dann den Deckel wieder herunter.
Er stieg in die kleine Wanne, zog den Vorhang zu und drehte die Brause zur Wand, um nicht vom eiskalten Wasser getroffen zu werden. Äußerst vorsichtig öffnete er beide Hähne der alten Armatur gleichzeitig und stellte sich zitternd auf die Zehenspitzen, als die Flüssigkeit unter seinen Fußsohlen hindurchrann. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm die Temperatur angenehm war, jetzt drehte er die Brause in seine Richtung, stellte sich unter den Strahl und begann mit der Wäsche. Zuerst eine genau bemessene Menge Shampoo in die linke Hand, Haarwäsche, danach Seife für das Gesicht, den Hals, Brust und Bauch, dann die Arme, der Rücken. Es folgte der Intimbereich, die Beine, zuerst das linke, dann das rechte, danach die Füße in derselben Reihenfolge. Er spülte sich ab, krampfte sich innerlich zusammen und drehte den Heißwasserhahn zu. Zwei, drei arktische Sekunden verharrte er unter der Polarkälte des eisigen Wassers, erst dann schloss er auch den zweiten Hahn. Kneippbäder mit wechselnden Wassertemperaturen sollten sehr gesund sein, hatte er gelesen, und trotz der täglichen Überwindung, die es ihn kostete, hielt er sich eisern an diese Prozedur.
Er wischte sich mehrfach kräftig über den Kopf, um möglichst viel Wasser aus seinen Haaren zu wringen, zog den Vorhang zurück, nahm das Handtuch von der Stange und stieg aus der Wanne. Er rubbelte sich ab, zuerst die Haare, dann die Körperteile in einer festgelegten Reihenfolge, von der er niemals abwich. Das Handtuch war, wie immer, von seiner Mutter ohne Weichspüler gewaschen worden, hart wie ein Brett und rau wie ein Reibeisen. Er kannte und mochte es nicht anders und genoss das Kribbeln seiner geröteten Haut, die langsam erwachte.
Zurück im Zimmer zog er sich an, sämtliche Kleidungsstücke lagen auf einem alten Stuhl aus dunklem Holz bereit, den ihm sein Vater vermacht hatte, als er von zu Hause ausgezogen war. Es handelte sich um einen Schreibtischstuhl, den der Vater zu Hause zusammen mit einem alten Sekretär in einem Raum aufbewahrte, der das „Schreibzimmer“ genannt wurde, obwohl Meier noch nie gesehen hatte, dass irgendjemand dieses Zimmer genutzt, geschweige denn, darin etwas geschrieben hatte. Jetzt diente der schwere Stuhl mit den massiven Rollen und den vielen Macken nachts als Ablage für Meiers Kleider und tagsüber als einzige Sitzgelegenheit im Zimmer, in dem neben dem Bett, einem Tisch mit seinem Computer und ein paar Büchern sowie einer Kommode für seinen kleinen Fernseher kaum noch etwas Platz hatte. Aber wofür brauchte er schon Platz?
Meier zog sich an, die Unterhose und die Socken lagen zuoberst, danach ein weißes Unterhemd und ein warmer Pullover, zuletzt die blaue Latzhose. Seine graue Mütze mit den ausklappbaren Ohrenwärmern brauchte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, sie hing deswegen an der Garderobe im Flur, darunter die schweren Stiefel, die er zu jeder Jahreszeit trug.
In der Küche setzte er Wasser auf, der Tisch war schon gedeckt, das hatte er am Abend zuvor erledigt. Holzbrett und Messer, der Eierbecher nebst Löffel und eine Tasse, in der ein Teebeutel wartete, standen bereit, dazu ein Glas für Saft und ein kleiner Esel aus Porzellan, der Pfeffer und Salz in zwei Körben trug.
Meier ging durch die Diele, griff nach dem Schlüssel, der im Schloss steckte, und entriegelte die Tür. Er öffnete sie und nahm einen tiefen Zug der frischen Morgenluft. Seine noch feuchten Haare durchfuhr eine kalte Brise, und er beeilte sich, die Zeitung von der Fußmatte zu nehmen und sich schnell wieder in die Wohnung zurückzuziehen. Auf dem Weg in die Küche zog er den widerspenstigen Rollladen an einem alten, abgegriffenen Riemen hoch und warf einen Blick auf die Schule gegenüber. Keine Regung durchfuhr sein Gesicht, aber innerlich freute er sich auf den Tag. Er mochte die Schüler, zumindest einige von ihnen, die freundlichen, die um Erlaubnis fragten, bevor sie in seinen Geräteraum kamen und sich Sachen ausborgten. Er mochte den Umgang mit den jungen Menschen, lächelte über ihre Lebensfreude, ihre Unbekümmertheit, ihr Spiel in den Pausen, und litt mit denen, die am Nachmittag die Schule mit schlechten Noten verließen und sich bange auf den Weg nach Hause machten.
Er legte die Zeitung auf den Küchentisch und goss das Wasser auf den Teebeutel. Sechs Minuten, Zeit, die er nutzte, um sich im Bad mit einem weiteren Erbstück seines Vaters, der schon vor Jahren auf ein modernes Gerät umgestiegen war, zu rasieren. Er zog das Messer ein paar Mal am Lederriemen ab, der neben dem Waschbecken hing, bereitete den Schaum, seifte sich ein und schabte sich behutsam die Stoppeln aus dem Gesicht.
Zurück in der Küche war das Fenster vom Wasserdampf beschlagen, er kippte es, goss den Tee auf, nahm ein Ei aus dem Kühlschrank, das er mit einer Nadel, die er mit einem Magneten an der Kühlschranktür befestigt hatte, einstach und dann in das restliche Wasser gab. Er sah auf die Uhr, genau drei Minuten und eine halbe, damit das Eiweiß schon geronnen und fest war, das Eigelb aber noch flüssig. Im Brotkasten bewahrte er Schwarzbrot auf, er aß zwei Scheiben, eine mit der Marmelade, die seine Mutter kochte, eine mit Fleischwurst, die Scheiben waren abgezählt für eine Woche, am Samstag wurde dann für die nächste Woche eingekauft. Hätte Meier jemals Besuch bekommen und ihn bewirten müssen, hätte das seine Vorratsplanung völlig durcheinandergebracht.
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