Die Ärztin war freundlich, aber nüchtern und professionell distanziert, Brigitte hatte nicht den Eindruck, dass sie wegen ihres Berufs Vorurteile hatte. Trotzdem wirkte sie ein wenig abwesend, so als wollte sie eher jetzt als gleich mit der Untersuchung fertig sein, und Brigitte fragte sich, ob die Ärztin die Frau mit den Komplexen und dem kleinen Kind genauso behandeln würde. Aber im Gegensatz zu dem, was Brigitte bei anderen Ärztinnen schon erlebt hatte, war das hier das reinste Paradies. Und bei einem Arzt war sie nur ein einziges Mal gewesen. Kälter als seine Hände war nur noch sein Blick, und als er sie fragte, ob sie Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Sexualpartnern betreibe, bildete sie sich ein, er würde sich nicht nur wünschen, dass sie zustimmte, sondern auch, dass sie ihn direkt in die Reihe dieser Partner aufnahm.
Zurück auf der Straße zündete sich Brigitte eine Zigarette an, inhalierte tief und schüttelte sich kurz. Sie zog die Augenbrauen hoch, seufzte und lächelte schon wieder beim Gedanken an die überdimensionalen Blüten im Wartezimmer. Es blieben ihr noch ein paar Stunden bis zum Beginn ihrer Schicht, aber es war noch zu früh, eine ihrer Kolleginnen anzurufen und zu einem gemeinsamen, späten Frühstück abzuholen, daher machte sie zunächst nur ein paar Besorgungen und fuhr dann zurück in ihre kleine Wohnung, um ein wenig aufzuräumen und ihre Katze zu versorgen.
Der Blick aus dem Fenster ihrer Küche ging in einen Innenhof und zeigte ihr täglich nichts anderes als Backsteinmauern und verzinkte Balkongeländer, die erst im letzten Jahr neu angebracht worden waren und im grotesken Gegensatz zur bröckelnden Fassade standen, die sie jetzt zierten. Wenn man den Hals verrenkte, konnte man ein Stück Himmel sehen, aber im Moment war das die Mühe nicht wert, es sei denn, man konnte einem einheitlich-schmierigen Grau etwas abgewinnen. Brigitte setzte eine zweite Kanne Kaffee auf, goss die Blumen und stellte der Katze eine große Portion Futter hin, die für den ganzen Tag reichen würde. Während der Kaffee durchlief, wechselte sie die Katzenstreu aus, wischte die Fensterbänke und brachte ihr Bett in Ordnung. Sie ordnete die Kissen auf dem Sofa neu und rückte an ein paar Bildern herum, die gar nicht schief hingen. In den Wechselrahmen gab es Aufnahmen ihrer Eltern und ihres Sohnes, ein Gruppenfoto mit ihren Kolleginnen und ein paar der Vorgängerinnen ihrer Katze.
Sie füllte die Thermoskanne mit dem Kaffee, kippte das Fenster und rauchte die nächste Zigarette. Durch ihren Kopf zogen Bilder, die sie aber nicht festhielt, sie blickte einfach ins Leere, durch die Mauern der Nachbarhäuser hindurch in eine unbestimmte Ferne. Auf die Frage, ob sie glücklich sei, hatte sie keine Antwort, aber sie stellte diese Frage auch nicht, für sie ging es darum, ob sie zufrieden war, und das war sie. Hätte ihr jemand einen Koffer Geld vor die Tür gestellt, hätte sie die Sachen sofort hingeschmissen, wäre in eine andere Stadt und in eine schönere Wohnung gezogen, aber was dann? Zufriedenheit war für sie nicht das Gefühl, versorgt zu sein, sich um nichts kümmern zu müssen, denn das war gleichbedeutend mit Langeweile. Zufrieden bedeutete, sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, ob man in der Lage sein würde, die Miete zu bezahlen, oder aus einem Fenster blicken zu können, das keine schöne Aussicht bot, und sich trotzdem wohlzufühlen. Glück war das nicht, aber was war es dann? Das, was die Plastikmenschen im Fernsehen, diese abgeleckten Arschlöcher, einem verkaufen wollten? Diese Märchen, die sie einem jeden Tag auftischten, in sogenannten Dokumentationen und in den angeblichen Nachrichten? Bestimmt nicht. Es war Jahre her, dass Brigitte eine Zeitung angefasst hatte, und den alten Fernseher hatte sie nicht ersetzt, als er endlich den Geist aufgab. Lediglich einen Film im Kino gönnte sie sich von Zeit zu Zeit, das aber auch nur dann, wenn die Kolleginnen sie mitschleppten.
Das erste Klingeln des Telefons drang nur schwerlich durch den Nebel ihres Tagtraums, sie brauchte eine kurze Weile, um zurückzukehren, drückte die Zigarette aus und nahm den Hörer. Tanja, eine ihrer jüngeren Kolleginnen, wollte sich mit ihr zum Frühstück treffen. Brigitte war plötzlich nicht nach Gesellschaft zumute, aber trotzdem sagte sie zu. Tanja war eine der angenehmeren Frauen, mit denen sie täglich zu tun hatte. Jung und knackig, noch am Anfang ihrer Karriere, trotzdem aber bei Weitem nicht so naiv und blauäugig wie viele, die sie schon hatte kommen und gehen sehen, die meinten, sie könnten das schnelle Geld machen und sich nach ein paar Jahren Arbeit zur Ruhe setzen und nur noch am Strand liegen. Dass sie einen Knochenjob verrichteten, merkten die Mädchen schnell genug, entsprechend hoch war der Durchsatz an neuen Gesichtern und Körpern, aber nur wer seinen Beruf liebte, ihn nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit dem Herz ausführte, konnte so lange bestehen, wie Brigitte es getan hatte. Das erzählte sie zumindest jedem, den es etwas anging, aber wichtiger war, dass sie selbst daran glaubte.
„In einer halben Stunde im Mickys, bis dann.“
Sie legte auf und machte sich daran, die Tasche mit ihrer Arbeitskleidung und ein paar Utensilien zu füllen, die sie nach jeder Schicht mit nach Hause nahm, um sie zu reparieren, zu flicken oder einfach nur fachgerecht zu säubern und auszukochen.
Einige Zeit später war sie bereit und die Tasche gepackt, der Tag konnte zum zweiten Mal beginnen.
Sven
Eine harte, arbeitsame Nacht lag hinter ihm, als Sven an diesem Morgen endlich nach Hause kam und erschöpft ins Bett fiel. Zuvor jedoch nahm er seine Beute und befestigte sie mit einem Klebestreifen unter dem Küchentisch. In dem kleinen Tresor, den er sich im letzten Monat an die Wand in seinem Kleiderschrank geschraubt hatte und der durch einen Stapel Wäsche verborgen war, bewahrte er nur ein paar unwichtige Papiere auf. Der Tresor diente als reines Ablenkungsmanöver, aber Sven freute sich schon jetzt diebisch über die Augen, die jemand machen würde, wenn er das Ding öffnete. Nicht, dass er vorgehabt hätte, es jemals so weit kommen zu lassen, aber Vorsicht war schließlich immer noch besser als Nachsicht, und ein Joker in der Hinterhand hatte noch niemandem geschadet. Trotzdem war der kleine Metallschrank hinter seinen Hemden nur ein humoristischer Luxus, den er sich gönnte, denn Sven war wahrscheinlich einer der umsichtigsten Menschen, die es jemals gewagt hatten, ihr Geld auf unehrliche Weise zu verdienen. Er hatte immer mindestens zwei Fluchtwege offen, hielt sich ständig den Rücken frei und arbeitete ausschließlich mit Profis zusammen. Witterte er die geringste Möglichkeit eines Risikos, brach er einen aussichtsreichen Job lieber ab, als dass er seinen Arsch hingehalten hätte, wie er es gerne formulierte.
Svens Arbeitstage waren zurzeit eher Arbeitsnächte und begannen, wenn Normalsterbliche bereits den Schlaf der Gerechten schliefen. Üblicherweise stand er nicht vor dem frühen Nachmittag auf, widmete sich einem ausgiebigen, sehr späten Frühstück und einer fast krankhaften Körperpflege und sammelte dann Informationen. Gestern hatte er neues Material von einem seiner Spürhunde bekommen, und nach Sichtung der äußerst vielversprechenden Unterlagen hatte ein Lächeln der Vorfreude um seine Lippen gespielt: Verheiratet, drei Kinder, Beamter im gehobenen Dienst, wohnhaft in einer Kleinstadt, in der er einiges Ansehen genoss. Das machte es umso einfacher. Großstädter, die nicht gerade ein öffentliches Amt bekleideten, waren rücksichtsloser und weniger bedacht auf ihren Ruf. Sollte der Nachbar doch denken, was er wollte. In einer Kleinstadt wirkte das Netz aus sozialer Kontrolle noch besser und effektiver, dort hatte man oft einen Großteil seines Lebens verbracht, war vielleicht sogar dort aufgewachsen oder hatte sich den Ort für seinen Ruhestand ausgesucht, sich ein üppiges Anwesen bauen lassen und plante, sein Alter hier zu verleben. Aus so einem Ort zog man nicht so einfach weg, man würde alles tun, um Schaden von sich und seiner Familie abzuwenden. Kompromittierende Fotos im Schaukasten der katholischen Kirchengemeinde konnten einem angesehenen Polizeibeamten oder dem beliebten Leiter einer Jugendgruppe schon einmal eine Gänsehaut über den Körper jagen. Und natürlich half es nichts, die Fotos schnell verschwinden zu lassen, die Abzüge würden überall sein, in der Post, an öffentlichen Plätzen und Bushaltestellen, am Kiosk und überall sonst, wo sich viele Menschen aufhielten, die nichts Besseres zu tun hatten, als die Neuigkeit zu verbreiten.
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