Nach dem Frühstück und dem anschließenden Putzen der Zähne, ging Meier in den Flur, schnürte seine Stiefel, setzte die Mütze auf, die Ohrenwärmer nach oben geklappt, so kalt war es noch nicht, nahm den Schlüssel und verließ die Wohnung. Er zog die Tür zu, kontrollierte, ob sie auch wirklich ins Schloss gefallen war, und drehte dann den Schlüssel zweimal.
Es war noch nicht einmal sechs Uhr, und es würde noch gute eineinhalb Stunden dauern, bis die ersten Schüler eintrafen, aber bis dahin hatte Meier noch einige Dinge zu tun, die er lieber jetzt als gleich erledigt wusste. Zuerst machte er eine Runde um das Schulgebäude und kontrollierte und leerte die Mülleimer. Das war gleichzeitig seine letzte Amtshandlung am Abend, und er wunderte sich jedes Mal, dass morgens trotzdem immer Abfall in den Behältern vorzufinden war. Er konnte sich nicht vorstellen, wer sich des Nachts in der Nähe der Schule aufhalten und Müll produzieren würde. Auch die Sporthalle wurde, bis auf einige wenige Ausnahmen am Wochenende, spätestens um acht Uhr geschlossen, und seinen letzten Rundgang unternahm er nicht vor neun Uhr. Er bewaffnete sich trotzdem mit Handschuhen und einer Müllzange und sammelte den Unrat auf, der sich zusätzlich neben den Eimern (wie konnte man die verfehlen?) und auf dem umliegenden Gelände fand. Mit Bedauern betrachtete er einen kurzen Moment den Schülergarten, der vor einigen Wochen im Rahmen einer Projektwoche angelegt, seitdem aber sträflich vernachlässigt worden war. Die kleine Grünfläche war zur Hälfte zertrampelt worden, auf dem Rest der Parzelle wuchs mehr Unkraut als irgendetwas anderes.
Als Hausmeister war Meier das Auge und die eintausend Ohren der Schule, und eigentlich hatte er die Idee begrüßt, den Schülern die Gartenpflege nahezubringen, ihnen zu zeigen, wie man Verantwortung übernimmt und Freude daran haben konnte, etwas wachsen und gedeihen zu sehen. Schnell wurde aber klar, dass das Projekt nur von den Schülern angenommen wurde, die sich schon vorher für Pflanzen interessiert hatten, und dass die große Mehrheit der anderen überhaupt nicht daran dachte, sich um etwas zu kümmern, was auf lange Sicht nur einem nützen konnte: der Schule. Aus der Sicht der Schüler galt es dem entgegenzuwirken, daher war es nicht verwunderlich, dass sich der „Garten“ in dem Zustand befand, den Meier jetzt gerade vor sich sah.
Er verstaute den prall gefüllten blauen Müllsack in einem der Container, den er zuvor von einem schweren Vorhängeschloss befreien musste. Die Experimente einiger Schüler mit leicht entzündlichen Flüssigkeiten sowie Feuerwerkskörpern hatte die Schulleitung zu dieser Sicherheitsmaßnahme gezwungen. Meier ließ das Schloss nach getaner Arbeit einschnappen und zog zur Kontrolle noch ein paar Mal heftig daran, bevor er den schweren Schlüsselbund wieder an die Kette legte und in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Er hatte Wochen gebraucht, bis er die unzähligen Schlüssel den richtigen Türen zugeordnet hatte, und auch jetzt noch kam es vor, dass er manches Mal mehrere Minuten lang vor einem Raum stand, einen Schlüssel nach dem anderen ausprobierte und dabei nervöser und unruhiger wurde, vor allem, wenn sich bereits eine feixende Gruppe von Schülern um ihn versammelt hatte, die jeder seiner erfolglosen Versuche nur noch zu weiterer Häme anstachelte. Meier ließ das alles über sich ergehen. Seine stämmige Statur schützte ihn davor, dass die Schüler auch körperlich zudringlich wurden, und so ließ er sie einfach reden. Das meiste von dem, was sie sagten, verstand er ohnehin kaum.
Meier betrat das Schulgebäude durch einen Seiteneingang, verschloss die Tür wieder sorgfältig und stieg hinab in die Eingeweide der Schule, die die Schüler (und die meisten Lehrer) nie zu Gesicht bekamen. Er machte eine Runde durch die Keller- und Heizungsräume, die nur spärlich beleuchtet waren und immer ein wenig nach Desinfektionsmitteln rochen, obwohl hier nie geputzt wurde und die Reiniger in einem anderen Teil des Gebäudes untergebracht waren. Er überprüfte die Temperatur des Kessels und sah nach, ob es Lecks in den endlosen Rohrleitungen gab, denn das hatte ihm der Direktor eingeschärft: Im letzten Winter hatte jemand, der nicht näher genannt wurde, ein Fenster im Keller offenstehen lassen, und ein plötzlicher Frost Ende November ließ einen Großteil der Heizungsrohre zufrieren, was durch den Rückstau fast die gesamte Anlage zerstörte. Die Schüler hatte es zunächst gefreut, denn es sah so aus, als würden die Weihnachtsferien in diesem Jahr bereits Anfang Dezember starten, doch dann hatten ein Abkommen mit den Schulen der Nachbarorte und zusätzlich angemietete Räumlichkeiten dem verfrühten Fest ein jähes Ende bereitet. Für Meier bedeutete dies aber, jeden Abend noch einmal in den Keller zu steigen und sich doppelt zu vergewissern, dass kein Fenster offenstand. Zusätzlich leuchtete er den Boden der Kellergänge mit einer Taschenlampe ab, um Pfützen besser entdecken zu können. Die Heizung war ihm anvertraut, also kümmerte er sich darum.
Um sieben Uhr schaltete er das Licht ein, das sich flackernd zunächst ein wenig sträubte, dann die Eingangshalle aber schnell mit weißem Licht flutete, in die sich in einer halben Stunde die Masse der Schüler ergießen würde, der jüngeren zumeist. Warum es viele so eilig hatten, verstand Meier nicht. Wenn er die Unterhaltungen, die er oft mit anhörte, richtig interpretiert hatte, waren die meisten Schüler nicht gerade angetan von der Schule. Darüber hinaus hatte jeder Schüler einen bestimmten Platz, meist sogar denselben in jedem Raum, soweit er wusste, denn beim Unterricht war er natürlich nicht anwesend, aber so kannte er es aus seiner eigenen Schulzeit. Es bestand also kein Mangel an Stühlen oder Sitzplätzen. Vielleicht gab es einen Wettbewerb unter den Schülern, wer am schnellsten auf seinem Platz sein würde, aber auch das konnte nicht sein, denn die Klassenräume wurden vor der ersten Stunde erst von den Lehrern geöffnet, die sie benutzten, die Schüler mussten also noch eine Weile auf dem Gang warten, bevor sie ihre unruhigen und scheinbar erwartungsvollen Körper durch die enge Türöffnung pressen konnten. Das gegenteilige Verhalten war allerdings bei den älteren Schülern zu beobachten. Sie kamen erst in letzter Minute, manche zogen noch hastig an einer in der Faust verborgenen Zigarette, kurz bevor sie den Eingang passierten, und bliesen den Rauch rebellisch ins Schulgebäude – allerdings nur dann, wenn gerade kein Lehrer in Sicht war, das hatte Meier genau beobachtet. In jedem Fall aber landeten die Stummel der Zigaretten im Beet neben dem Eingangsbereich, wurden von der feuchten Erde im Laufe des Tages durchweicht und konnten mit der Müllzange abends kaum noch gegriffen werden, so dass er regelmäßig mit seinen Handschuhen im Dreck wühlte. Aber das gehörte zu seinen Aufgaben, also beschwerte er sich nicht. Auch hielt er nie einen Schüler an, seinen Abfall selbst wieder aufzuheben oder wies den täglichen Mülldienst an, die Beete ebenfalls zu säubern. Dieser Dienst rekrutierte sich aus einer Handvoll Schüler der Unterstufe und sollte den Schulhof nach der großen Pause von all dem Unrat befreien, den ihre Mitschüler achtlos hatten fallen lassen. Das meiste blieb allerdings an Meier hängen, da die Säuberungskräfte des Mülldienstes einen Großteil ihrer Zeit vor dem nahen Kiosk verbrachten, um ihr Taschengeld in Süßigkeiten umzusetzen, statt den Müll aufzusammeln, von dem sie wussten, dass er am nächsten Tag sowieso verschwunden sein würde.
Die letzten Momente, in denen Meier allein in der Schule war, genoss er am meisten. Er sah sich zufrieden um, atmete den immer noch wahrnehmbaren Geruch der Putzmittel ein, die die Reinigungskolonne am Vorabend verwendet hatte, und wünschte sich, dieser Zustand der Ordnung könnte über die Woche, den Tag oder auch nur die nächste Stunde gerettet werden. Aber er wusste nur zu genau, dass bald die ersten Lehrer kommen und die Ruhe stören würden, gefolgt von ein paar Schülern der Oberstufe, denen es erlaubt war, vor Beginn der Schulzeit die Eingangshalle zu betreten, um die Aushänge über anstehende Prüfungen oder Änderungen im Lehrplan zu betrachten. Es war offensichtlich, dass besonders in den kalten Monaten von diesem Vorrecht ausgiebig Gebrauch gemacht wurde, um nicht bei Schnee und Eis draußen warten zu müssen, aber immer war ein Lehrer mit der „Bewachung“ des Eingangsbereichs betraut, und so kümmerte sich Meier nicht weiter darum.
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