Ihre Stimme brach, wir konnten sie von unserem Platz auf der Treppe nicht sehen, aber es hörte sich so an, als hätte sie angefangen zu weinen, doch schnell fing sie sich wieder.
»Bis dass der Tod uns scheidet, ja genau. Ich sage Ihnen, warum dieser Tagedieb mich so behandelt, warum er mich vor allen anderen bloßgestellt hat, warum er diese Gerüchte streut. Wissen Sie, warum er das tut? Weil ich ihn abgewiesen habe, weil ich ihm gesagt habe, dass ich lieber als alte Jungfer sterben werde, als einen Menschen wie ihn zu ehelichen. Einen Menschen, für den Ehre nichts bedeutet, einen schmutzigen, sündigen … ekelhaften Weiberheld, der sich darauf ausruht, dass die Ländereien seiner Eltern ihm seine Ausschweifungen bezahlen, der sein Lebtag noch keinen Finger gerührt hat, um sich ehrliches Geld zu verdienen, mit seiner Hände Arbeit. Das ist der Grund, warum er mich hasst. Und auch, wenn ihm das nicht das Recht gibt, mich vor allen anderen als Mörderin hinzustellen, so ist er derjenige, dem man glaubt. Man glaubt immer die schmutzigen Dinge, die Skandalgeschichten, die dreckigen Lügen, die so viel interessanter sind als die Wahrheit. Und deswegen hasst man uns im Dorf, deswegen spricht niemand mit uns, deswegen werden wir gemieden.«
Sie hatte sich jetzt wieder vollständig unter Kontrolle und merkte, dass sie zu weit gegangen war, dass ihre Gefühle sie mitgerissen hatten, weiter, als sie eigentlich gewollt hatte. Sie kam auf das ursprüngliche Thema zurück, nicht ohne sich der Loyalität des Pfarrers zu versichern.
»Jetzt wissen Sie den Grund, und ich hoffe, ich habe Ihr Wort, dass nichts davon, was ich Ihnen hier erzählt habe, je ins Dorf getragen wird.«
Der Pfarrer nickte langsam und sagte nichts.
»Deshalb werde ich den Teufel tun, verzeihen Sie mir, Frieda oder auch Bruno in den Kindergarten zu schicken, und ich würde sie lieber selbst unterrichten, wenn ich es nur könnte, statt sie allein in dieses Sündenloch herabsteigen zu lassen, in dem die Kinder der Leute, die gegen mich hetzen, über sie herfallen werden, sobald sie Gelegenheit dazu haben. Das ist der Grund, und das ist mein letztes Wort, ich werde meine Kinder so lange zu schützen wissen, wie es mir möglich ist, und wenn ich sie hergeben muss, werde ich es nur schweren Herzens tun und jeden Tag dafür beten, dass man sie mir heil und unversehrt wieder entlässt.«
Ihre Stimme zitterte abermals bei diesen Worten, aber sie hatte jetzt nichts mehr zu sagen und schwieg. Der Pfarrer räusperte sich, konnte aber der Vehemenz ihrer Worte auf die Schnelle nichts entgegensetzen. Auch meine Großmutter sagte nichts, ich erfuhr später, dass sie meiner Mutter zwar nicht zustimmte, zumindest nicht in allen Punkten, dass sie aber in diesem Moment daran dachte, wie sie selbst von ihrer Familie zurückgelassen worden war und ihre Schwiegertochter die Einzige war, die ihr noch blieb. Nach einer langen Zeit hatte sich der Pfarrer wieder etwas gefasst und versuchte noch einmal, auf meine Mutter einzureden, aber er wusste, dass er mit seinem Wunsch auf verlorenem Posten stand, und tat es nur, um sein eigenes Selbstwertgefühl wieder etwas instand zu setzen.
»Ich bedaure, dass Sie diesen Eindruck haben, und ich kann Ihnen versichern, dass niemand Sie hasst. Es mag einige einzelne, verwirrte Personen geben, die tatsächlich an diese unfassbaren Dinge glauben, die man Ihnen vorwirft, aber lassen Sie sich doch bitte nicht dazu verleiten zu glauben, dass jeder im Dorf diese Gedanken teilt, nur weil einige wenige besonders laut schreien. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihre Entscheidung noch einmal überdenken, vielleicht gibt es die Möglichkeit, dass die Nachbarn Frieda morgens mit ins Dorf nehmen, sodass sie nicht allein laufen muss, irgendetwas ließe sich da doch einrichten.«
Danach wurde nicht mehr gesprochen, ich hörte nur ein Flüstern und meinte, etwas gehört zu haben wie »nur über meine Leiche«, aber da kann mir die Erinnerung auch einen bösen Streich spielen, wahrscheinlich hatte sie einfach den Kopf geschüttelt und damit ihre Entscheidung für alle Zeiten festgeschrieben. Kurz darauf erhob sich der Pfarrer, wir hörten ihn seinen Stuhl über den Holzfußboden zurückschieben und schlichen schnell die Treppe hinauf, um nicht beim Lauschen erwischt zu werden. Oben auf dem Treppenabsatz vernahmen wir, wie der Pfarrer verabschiedet wurde, der sich bei meiner Mutter für ihre Ehrlichkeit bedankte und sie noch einmal bat, über die Sache nachzudenken. Dann fiel die Tür ins Schloss, und wir waren wieder allein. Und zum ersten Mal in meinem Leben schien es mir wirklich, dass wir allein waren, separiert, einsam. Denn durch die Rede meiner Mutter hatte ich etwas über die Welt erfahren, das mir vorher verborgen geblieben war, und zwar einfach aus dem Grunde, weil meine Mutter es vor uns geheim gehalten hatte. Es gab also außerhalb unseres Hofes eine andere Welt, eine böse Welt, die uns feindlich gesonnen war. Es gab nicht nur auf dem Hof Gefahren, auf die man achtgeben musste und die man einfach vermeiden konnte, es existierten darüber hinaus Menschen, die uns nicht mochten, die uns sogar hassten, wenn man meiner Mutter glauben konnte – und welchen Grund hatte ich, an ihren Worten zu zweifeln? Sie hatte es alles miterlebt, sie hatte ihr ganzes Leben hier verbracht und mit einem Mal war ihr eine Welle des Hasses entgegengeschlagen, Menschen hatten sie beschuldigt, unseren Vater ermordet zu haben! Und auch um Frieda fürchtete sie. Ich sah meine Schwester an und fand sie in Tränen aufgelöst. Das, was meine Mutter gesagt hatte, hatte sie direkt ins Herz getroffen. Wie musste ihr jetzt zumute sein? Meine Mutter hatte das Bild einer Welt von Abgründen, von Hass und Ablehnung, vor uns aufgezeichnet, und in diese Welt stiegen wir, sicher und geborgen an ihrer Seite, nur einmal in der Woche hinab. Es war eine Sphäre, die wir fürchten mussten, da wir keine Ahnung hatten, wie wir uns schützen sollten. Und jetzt kam der Pfarrer in unser Haus und versuchte, unsere Mutter davon zu überzeugen, ihre Tochter allein in diese Welt zu schicken. Ich umarmte Frieda und zog sie vom Treppenabsatz weg in ihr Zimmer, damit unsere Mutter nicht hörte, wie sie schluchzte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich hätte gerne behauptet, dass alles gut werden würde, aber genau das würde es wahrscheinlich nicht, denn Frieda sollte ja bald in die Schule gehen. Der Zeitpunkt, an dem sie tatsächlich allein ins Dorf musste, war also schon festgesetzt, es gab kein Zurück mehr, die Macht unserer Mutter endete hier, sie musste ihre Tochter freigeben und gehen lassen ins Feindesland.
»Aber der Pfarrer gehört doch zum lieben Gott«, sagte Frieda, und die Tränen erstickten ihre Stimme. Ich wusste, was sie meinte, und war ebenso hilflos. Wenn schon der Pfarrer, dem auch meine Mutter zu vertrauen schien, denn immerhin gingen wir jeden Sonntag in seine Kirche, Frieda aus unserer Familie reißen wollte, wem konnte man dann noch trauen? Wenn selbst ein Mann Gottes seine Arme ausstreckte, um unsere Familie zu zerreißen, wo gab es noch Halt? Irgendwann schickte mich Frieda aus dem Zimmer, und ich fand mich allein auf dem Flur wieder, verwirrt und voller Angst. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als verzweifelte Gebete auszustoßen. Ich faltete die Hände, wie ich es gelernt hatte, blickte zur Decke, in Richtung des Himmels, in dem jener wohnte, den wir immer um etwas bitten konnten, und flehte darum, dass er unsere Familie nicht zerstören, dass uns niemand Frieda wegnehmen möge und dass er die Leute, die uns hassten, gut machen solle, damit sie uns nichts tun würden. Völlig aufgelöst fand mich meine Großmutter, sie nahm mich in die Arme und ließ mich so lange weinen, bis keine Tränen mehr übrig waren.
»Frieda soll nicht weggehen«, stieß ich hervor, und meine Großmutter strich mir die Haare aus der Stirn und ließ ihre Hand auf meinem Kopf ruhen.
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