1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Sie kam sich plötzlich vor wie ein kleines Mädchen. Sie wusste nicht mehr, wie man das macht. Sie versuchte sich, damit zu beruhigen, dass sie die Natur mit all diesen Herrlichkeiten liebte und bewunderte; dass sie nie hinterlistig war, niemand betrogen oder bestohlen hatte. Vielmehr hatte sie mit Inbrunst Liebe gegeben – und natürlich auch empfangen. Das hatte Gott oder die Schöpfung so eingerichtet. Also konnte dies alles nicht falsch sein. Okay okay. In Gottes Namen. Dafür hatte sie Geld bekommen. Aber das hatte sie sich verdient. Das war ihr Job.
Zwei Wochen später; Chantal hatte ihre Rendezvous-Liste „abgearbeitet“, führte Harald sie zu einem Hochhaus in der Wintersbachstraße am Bornheimer Hang. Sie respektierte seine Bitte, in den nächsten zehn Minuten keine Fragen zu stellen.
Mit einem gespielten Pokerface drückte er auf den Knopf zum 22. Stock. Der Aufzug fuhr leise und rasch nach oben. Dort angekommen, holte er einen Schlüssel aus seiner Jackentasche.
»Zuerst will ich dir den Ausblick zeigen«, sagte er mit einem Lächeln. Gemeinsam betraten sie den Balkon. Es war ein sonniger Tag im August.
»Wahnsinn. Das ist ja eine wahnsinnig schöne Aussicht«, entfuhr es Chantal.
In Richtung Süden, am Fuße des Hochhauses, lag der Günthersburgpark. Weiter dahinter sah sie den Frankfurter Zoo, die Innenstadt, den Main, Sachsenhausen und Offenbach. Da waren die vielen anderen Hochhäuser. Der Blick reichte heute bis nach Neu-Isenburg und den Flughafen Frankfurt. Und weiter im Westen konnte sie das Main-Taunus-Zentrum erkennen. Noch weiter, in Richtung Nordwesten, war im Dunst der Taunus auszumachen.
»Das ist himmlisch. Gehört diese Wohnung Dir? Das würde mich nicht überraschen.«
»Du musst mir schon etwas mehr zutrauen mein Engel.« Harald ließ sich Zeit. Offensichtlich wollte er es spannend machen.
»Öffne deine Hand«, bat er.
Chantal zuckte artig mit den Schultern. Sie öffnete ihre rechte Hand. Plötzlich fühlte sie etwas Hartes, Stählernes in ihrer Hand. Blitzschnell erkannte sie einen Schlüssel. Sie sah, wie Harald ihre Hand mit seinen beiden Händen sanft und theatralisch zudrückte.
»Das ist ab sofort deine Wohnung«, sagte er leise.
In diesem Moment erschloss sich ihr der Sinn dieser Worte nicht so recht. Wie in Trance ließ sie sich durch die Wohnung führen. Sie war riesig. Sie war wunderbar eingerichtet. Im Schlafzimmer erkannte sie dieses große Doppelbett und den riesigen Spiegelschrank. Jaja. Jetzt dämmerte es ihr, warum Harald diese Möbel mit seinem Smartphone aufgenommen hatte. Und dann … dann fühlte sie ihre Beine nicht mehr.
Das Bett war weich. Sie spürte, wie Harald über ihre Wangen strich.
»Entschuldige bitte«, flüsterte er. »Ich habe mich wie ein Schuljunge benommen. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass dir das so nahegehen könnte. Ich wollte dir eine große Freude bereiten. Das habe ich dir doch versprochen. An diesem Abend. Im Taxi. Du kannst dich doch daran erinnern?«
Er legte sich zu ihr auf das Bett. Er zog sie sanft an sich.
»Sag‘ mir, dass du dich wenigstens ein bisschen freust. Zumindest ich habe mich wie ein Pennäler gefreut, als ich das hier eingerichtet habe.«
Chantal gab Harald einen herzhaften Kuss.
»Du bist ein Barbar. Deine Chantal so zu erschrecken.« Sie setzte einen Schmollmund auf. »Um ehrlich zu sein. Ich hätte nicht gedacht, dass mich etwas so umhaut. Mach‘ dir also keine Vorwürfe.«
Stille entstand im Raum.
»Wie groß ist die Wohnung eigentlich? Die muss ja ein Vermögen gekostet haben. Du Spinner. Für eine Konkubine so viel Geld auszugeben.«
»Sag so etwas nie wieder. Bitte. Du bist inzwischen ein Teil meines Lebens. Quatsch. Du bist der wichtigste Teil meines Lebens geworden. Das musst du mir glauben.«
Chantal verglich die Zeit mit den vielen Musikstücken, die sie zusammen mit Harald genossen hatte. Sie lässt dich träumen, wie bei Peer-Gynt. Sie lässt dich über den Tau des Morgens gehen. Sie lässt dich sogar über den Wolken schweben. Doch die Zeit hat auch Bässe und dunkle, rabenschwarze Töne. Bislang war sie von großen Paukenschlägen verschont geblieben. Eine Stimme in ihr sagte, dass sie sich in den kommenden Jahren auf einige Veränderungen einstellen musste. Die Zeit würde dann den Schmerz sanft wie mit einer Decke aus Schnee zudecken, und auf den nächsten Frühling warten. Das hoffte Chantal zumindest. Die Zeit sprudelt dich hinweg, nimmt dich mit, donnert dich hinab über die Felsen – wie bei Smetana. Dann trägt sie dich wieder auf den Wellen dahin. Aber die Zeit ist auch ein Schurke, ein Dieb ein hässlicher Geselle. Auch das musste Chantal in den nächsten Jahren ertragen.
Doch zunächst waren da die herrlichen und wunderbaren Jahre.
Harald trug sie auf Händen. Doch, und da machte Chantal sich nichts vor, hing er ab und zu in den Seilen … wenn er wusste, dass sie an einem Wochenende wieder einmal „unterwegs“ war; mit einem anderen Mann in irgendeinem Bett lag; irgendwo in Deutschland. Manchmal begleitete sie ihre Kunden auch ins Ausland; war eben mal schnell in London, Monaco, an der Riviera – oder weiß der Teufel wo. Aber Harald, ihr Anker, hatte diese Qualen bislang nie spüren lassen. Dafür liebte sie ihn.
Harald war ihr wichtig. Für ihn nahm sie sich Zeit; legte sich sogar mit dem Geschäftsführer der immer größer gewordenen Escort-Gesellschaft an. Mit Harald fuhr sie in die Toskana. Dort wanderten sie durch die Weinberge bei Montaione. Ihr Weg führte sie an viele Schauplätze der Musikstücke von Edward Grieg, Smetana, Mozart und Strauss. Er mietete ein Haus an einem der unendlichen vielen Seen in Kanada. In den Süden zog es Harald nicht. An den Winterabenden lagen sie, oft nackt, vor dem Kamin, hörten Musik und tranken Rotwein.
Sie gab ihm Kraft für sein Unternehmen. Zumindest hatte er dies viele Male gesagt. Eines Tages lud er sie sogar ein, um ihr jede Ecke dieses Unternehmens zu zeigen. Er und seine Chemiker waren erstaunt, wie schnell Chantal alle Zusammenhänge erfasste.
Es sollte ihr Geheimnis bleiben, dass sie einige Geschäfte, große Geschäfte, angebahnt hatte – auf ihre ureigene Weise. Das glaubte sie Harald schuldig zu sein.
Noch nie zuvor hatte sie mit einem Chinesen geschlafen, der nur ihretwegen einige Male nach München flog. Er, Mister Lin-Lin, bestand darauf, dass sie bei der Einweihung eines Joint-Venture-Unternehmens in Tianjin anwesend war. Eine jüngere Chinesin, Lin-Lin gab vor, dass sie seine Schwester sei, beäugte Chantal äusserst interessiert. Sie konnte damals nicht wissen, dass diese Frau noch eine Rolle in ihrem Leben spielen sollte; allerdings nur eine indirekte Rolle.
Harald weinte vor Glück beim Erstauftrag eines großen Unternehmens in Lyon. Marlon Larousse war ein ekelhaftes Wesen. Aber das musste Harald nicht wissen.
Vor einem halben Jahr bat der Rendezvous-Geschäftsführer Chantal zu einem Grundsatzgespräch, wie er es nannte, nach München. Er bat sie inständig, nicht so viele Anfragen abzulehnen. In seiner bayerischen Art begann er ihr sogar zu drohen. Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund und lachte:
»Moosbacher, du Schelm. Was meinst du, was passiert, wenn ich zusammen mit fünf meiner besten Freundinnen zur Konkurrenz gehe. Du solltest künftig deine Zähne mit Wasser und nicht mit Weizenbier putzen. Sei lieb. Und denke vor allem nach, bevor du wieder einmal den bayerischen Raufbold spielen willst.«
Selbstverständlich entschuldigte sich Sepp Moosbacher. Chantal brauchte ab und zu ihre Auszeit. Zwei Dates pro Woche. Ab und zu ein Wochenende. Mehr hatte sie sich nicht vorgenommen. Mehr sollten es unter keinen Umständen werden.
Doch immer wieder musste sie für einige Stammkunden eine Ausnahme machen.
Da war vor allem Eric Conzen. Er war Inhaber einer Hotel-Gruppe in Wiesbaden. Seine
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