In diesem Augenblick trat auch Aradman wieder in die Halle. Er war nicht wenig erstaunt, den Pfeifer wiederzusehen.
Aber auch er war zurückhaltend, obwohl er den Gruß nicht verweigerte. Michel sah, daß er überall auf Mißtrauen stieß. Seine erste Aufgabe also mußte es sein, dieses zu zerstreuen.
Feindlich gesinnte Menschen würden kein Interesse daran haben, Tscham zu helfen.
Als der König ein paar Fragen an ihn richtete, hob er abwehrend die Hand.
»Höre, Aradman«, machte er sich in seinem mangelhaften Kisuaheli verständlich. »Ich will keine Zeit damit verlieren, dir Fragen zu beantworten. Erlaube, daß ich dir eine Erklärung für alles gebe, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat.«
Aradman nickte und wies auf einige Bastmatten, die auf dem Boden lagen.
Es war nicht einfach für Michel, alles das in der fremden Zunge wiederzugeben, was zum Verständnis der Situation nötig war. Aber an den Gesichtern der beiden Zuhörer bemerkte er bald, daß sie alles begriffen.
Als er geendet hatte, nickte Aradman. Dann erhob er sich, klatschte in die Hände, befahl einem eintretenden Diener, seinen Leibarzt zu holen, und wandte sich an Michel :
»Deinem Freund wird geholfen werden«, sagte er. »Ichschenke deinem Bericht Glauben. Es ist schlimm, was dieser lange Schwarze angerichtet hat.«
Damit meinte er Ugawambi.
Michel stimmte ihm zu.
»Was können wir tun, um ein Unglück zu verhindern?« fragte Aradman.
Michels Gesicht wurde starr. Diese Frage hatte ihn während des ganzen Weges gequält. Es war ihm nicht gelungen, einen unblutigen Ausweg zu finden. Würde es diesmal noch gelingen, die Sklavenhändler zu vertreiben, so konnte er sicher sein, daß es nicht lange dauern würde, bis sie wiederkamen. Das einzig Sichere war — — ihr Tod. Aber vierzig Menschen umzubringen, das war etwas, was nicht zu Michels Einstellung den Menschen gegenüber gehörte. Alles in ihm sträubte sich gegen diese Tat. Und doch schien sie der einzig reale Ausweg zu sein.
So meinte er denn zu Aradman:
»Wir müssen eine List anwenden. Ich werde sofort wieder aufbrechen, um ihnen entgegen zu reiten. Bei passender Gelegenheit fange ich dann Ugawambi. Wenn dieser in unserer Gewalt ist, so haben sie keinen Führer mehr. Dann können wir sie in ein Seitental der Hauptstadt locken, um sie dort — — gefangenzunehmen.«
Aradman wiegte den Kopf.
»Und was dann? Was sollen wir mit ihnen tun?«
»Am einfachsten wäre es, sie sofort zu töten«, warf Maradsche ein.
Michel blickte starr zu Boden. Er wußte, daß es nicht nur das einfachste, sondern auch das einzigste war, was ähnliche Exkursionen für die Zukunft verhindern würde.
»Dir ist bei dem Gedanken nicht wohl?« fragte Aradman begreifend.
»Offen gestanden, nein«, antwortete Michel. »Es ist mir ein schrecklicher Gedanke, am Tod von vierzig Menschen schuld zu sein.«
»Wäre es nicht vielleicht möglich, sie in die Irre zu führen und sie dann sich selbst zu überlassen?«
Maradsche schüttelte den Kopf.
»Kaum«, sagte er. »Wenn sie erst den Berg gesehen haben — und ich zweifle nicht daran, daß sie ihn gesehen haben —, so werden sie nie ruhen, bis sie ihn wieder gefunden haben. Wenn nicht auf dieser Reise, so auf der nächsten. Der Berg des ewigen Schnees wird ihr ständiger Wegweiser sein. Er wird sie mit magischer Gewalt anziehen. Es gibt für einen Fremden nichts Schlimmeres, als ein ungeklärtes Geheimnis. Habe ich nicht recht?«
Michel nickte.
In diesem Augenblick betrat ein wunderlich aufgeputzter Mann die Halle. Er hatte die Schwelle des Greisenalters schon längst überschritten. Sein Gesicht war runzlig. Er war mit einem Kostüm aus Vogelfedern bekleidet. Auf dem Kopf saß ein Gegenstand, der aussah wie eine Krone. Sein Mund war zahnlos.
Der König und Maradsche erhoben sich bei seinem Eintreten. Michel und Ojo folgten dem Beispiel.
»Das ist der große Zauberer unseres Volkes«, sagte Aradman. »Wenn er nichts für deinen Freund tun kann, so kann niemand etwas für ihn tun.«
Der Medizinmann wackelte mit dem Kopf. Das einzige an ihm, was sich seine Jugendkraft bewahrt zu haben schien, waren die flinken kleinen Augen. Sie blieben jetzt auf Tscham haften.
Er streckte den Finger aus und zeigte auf den Jungen.
»Der da?« fragte er.Aradman nickte.
Der Medizinmann kniete neben der Bahre. Er beugte sich ganz dicht über Tschams Gesicht, so, als wolle er ihn küssen. Aber Michel sah, wie er mit starr aufgerissenen Augen in die blutunterlaufenen Tschams sah.
Dann fuhr er dem Jungen ein paarmal mit dem Zeigefinger über das Gesicht. Er hob seine Arme an und ließ sie wieder fallen. Dann richtete er sich auf.
Er blickte den König an und nickte. Sein zahnloser Mund murmelte etwas, was Michel nicht verstand.
Aradman wandte sich an den Pfeifer.
»Der große Zauberer der Wadschagga meint, daß dein Freund in wenigen Tagen wieder gesund sein wird.«
Jetzt erwachte der Arzt in Michel.
»Wird mir der große Zauberer das Rezept verraten?« fragte er.
Der alte Mann blinzelte ihn listig an. Als er ihn lange genug fixiert hatte, nickte er.
Dann wandte er sich wieder an Aradman.
Nach kurzem Gespräch hob Aradman den Arm und deutete auf eine Tür, die dem Eingangsportal gegenüber lag.
»Dein Freund wird dort, in diesem Gemach, seiner Genesung entgegenschlafen, wenn du es erlaubst«, wandte er sich an Michel.
Michel gab seine Zustimmung.
»Werde ich ihn zwischendurch sehen können?«
»Du hast jederzeit Zutritt zu ihm.«
Michel war zufrieden.
Es entstand eine Pause.
Der Pfeifer, der nun sicher war, daß alles für Tscham getan wurde, was im Bereich des Möglichen lag, dachte wieder an seine eigentliche Aufgabe. Viel Zeit durfte er nicht mehr verlieren.
Er wandte sich an den König :
»Höre, Aradman«, sagte er. »Ich bitte dich, mir eine Matte zuzuweisen, daß ich mich eine Stunde ausruhen kann. Ich bin zu abgespannt, um gleich zu reiten. Was in meinen Kräften steht, will ich tun, damit nie mehr eines anderen Fuß deine schöne Stadt betritt.«
9
Imi Bej war mit seiner Bande bald, nachdem sie den Krokodilfluß überschritten hatten, aufgebrochen.
Über der Kilimandscharo-Niederung hing noch immer der dicke Dunst regenschwerer Wolken.
Bis jetzt hatte sich der Berg ihren Blicken noch stets entzogen.
Eingedenk dessen, was Imi Bej bei früherer Gelegenheit mit Ugawambi gesprochen hatte, ritten sie strikt in nordwestlicher Richtung weiter.
Ugawambi tat nichts dazu, die Richtung zu ändern, obwohl er wußte, daß sie jetzt genau nach Norden ziehen mußten, um die Stadt des Königs Aradman zu erreichen.
Der lange Neger ritt am Ende des Zuges. Nachdenklich blickte er vor sich auf den Kopf seines Pferdes. Anfangs hatte er noch die Hoffnung gehabt, daß die Sklavenjäger davor zurückschrecken würden, den Fluß der Krokodile zu überqueren. Er hatte sich eines Besseren belehren lassen müssen und wußte nun, daß es für Imi Bej keine Hindernisse gab.
So war Ugawambis Hoffnung, daß er doch nicht wortbrüchig zu werden brauchte, zusammengeschmolzen. Er wußte, daß sie nahe am Ziel waren. Und einmal würde sich der Berg zeigen. Einmal würden die Wolken zerreißen und strahlende Sonne würde den Schnee auf seiner Kuppe glitzern lassen. Daß Imi Bej, stur der jetzigen Richtung folgend, an diesem Berg vorbeiziehen würde, war unwahrscheinlich.
Ugawambi fuhr mit den langen knochigen Fingern durch die Mähne seines Pferdes. In seinem Innern tobte ein wilder Kampf. Gab es keine Rettung für die Wadschagga?
Plötzlich sah er auf. Ein Gedanke durchzuckte sein Hirn. Wie, wenn er sich in der Nacht davonschliche? Wenn er in die Stadt der Wadschagga eilte, um diese zu warnen? Aber würde man ihm glauben? Würde man das Ganze nicht für einen Trick halten?
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