»Herein.«
Die Tür sprang auf, und in ihrem Rahmen erschien Rachel.
Jehu Rachmann war starr.
»Du — du?« stammelte er.
Sie ließ sich weder von dem unaufgeräumten Zimmer, noch von dem halbeingeseiften Gesicht Jehus abschrecken. Die Tür hinter sich zuschlagend, stürzte sie dem erstaunten jungen Mann an die Brust und weinte hemmungslos.
Jehu wischte sich den Rest des Seifenschaums mit einem Handtuch aus dem Gesicht.
»Mein Gott, Rachel, was ist denn geschehen? — Ich war schon fast verzweifelt, daß ich dich so lange nicht sehen konnte. Wo hast du gesteckt?«
»Oh, Jehu«, weinte sie, »ich wollte dich eigentlich nie wiedersehen. Ich war im Haus im Wald.
Oh, es steht schlimm mit den Hirschfelders. Sie haben uns ruiniert, ruiniert.«
»Wer? - Was ist denn los?«
Rachel faßte sich nach einer Weile. Unter verzweifeltem Schluchzen erzählte sie ihm alles, was sich abgespielt hatte, seit sie sich zum letztenmal gesehen hatten.
Die Augen des jungen Musikers brannten, sie loderten förmlich vor Haß.
»Gibt es denn so etwas?«
»Oh, sie sind so schlecht. Ich habe noch nie niederträchtigere Menschen kennengelernt.«
Jehu stand auf und schritt im Zimmer auf und ab. Er überlegte krampfhaft, wie er dem geliebten Mädchen und der ganzen Familie helfen könnte. Er wußte nur zu gut, daß er in den Augen der oberen Zehntausend von Kassel ein Nichts war. Seine Macht würde nicht entfernt so weit reichen wie die des Abraham Hirschfelder. Wer kannte Jehu Rachmann? Wer würde es überhaupt für der Mühe wert halten, sich mit seinen Klagen zu befassen, wenn er diese einem Gericht vortrug?
Verzweifelt fuhr er sich durch das dichte Haar. Dann faßte er einen Entschluß.
»Wenn ich schon keine direkte Hilfe leisten kann«, sagte er, »so will ich wenigstens mit dir zu deinen Eltern gehen. Wir wollen das Leid gemeinsam tragen. Vielleicht kann dein Vater einen jungen Mann zur Unterstützung gebrauchen. Es wird mir nichts zuviel sein, um euch zu helfen.«
— Er richtete sich zu voller Größe auf. —
»Der Herr möge sie verderben, die Rache ist Gottes.«
Rachel ging aus dem Zimmer. In der Gaststube wartete sie, bis Jehu fertig war. Dann liefen sie eiligen Schrittes durch die Straßen, bis sie zu Hause anlangten. Sie gingen die Treppe empor.
Rachel wollte die Köchin etwas fragen, als diese den Zeigefinger auf den Mund legte.»Sei ruhig, Rachel, Kind, der Doktor ist bei deinem l Vater. Es scheint ihm sehr schlecht zu gehen.«
»Was war?«
»Oh, deine Mutter fand ihn auf der Erde liegen. Wir hoben ihn auf das Bett, und das Mädchen holte den Arzt. Dann habe ich dich gesucht; aber ich konnte dich nicht finden.«
Sie warteten.
Nach geraumer Zeit, es mochte etwa eine halbe Stunde vergangen sein, öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer, und der alte Hausarzt trat heraus. Neben ihm, auf seinen Arm gestützt, wankte Frau Judith. Ihre sonst so lebhaften Augen glichen erloschenen Sternen. Nicht einmal die Kraft zu weinen hatte sie.
Rachel starrte sie entsetzt an. Mit einem Schritt war sie neben ihr.
»Was ist? — Mutter, so rede doch.«
Frau Judith schüttelte nur langsam den Kopf.
»Dein Vater, Rachel«, sagte der alte Arzt, »ist tot.«
»Nein! — Nein!« schrie Rachel. Dann preßte sie die Fäuste in die Augen. Wildes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Sie weinte hemmungslos.
Im letzten Moment gelang es Jehu, sie in seinen Armen aufzufangen, bevor sie zusammenbrach.
40
Jehu Rachmann mußte aufspielen. Er mußte auf dem alten Cembalo spielen. Er mußte immer spielen; denn es war sein Beruf zu spielen, sein Beruf und sein Brot.
Einer wie der Krugwirt kümmerte sich nicht um die zarten inneren Saiten eines Musikers.
Hauptsache, die Saiten des Instruments, das zur Unterhaltung der lustigen Gäste diente, waren in Ordnung.
Es war ungewöhnlich für dieses Jahrhundert, daß ein einzelner Musiker allein im Krug zum Tanz aufspielte. Noch dazu auf einem jener alten, tonfüllelosen Cembali.
Aber der Gedanke, den Alleinunterhalter für die Gäste zu spielen, war nicht dem Krugwirt gekommen, sondern Jehu selbst. Jehu war mit Bachs »Wohltemperiertem Klavier« aufgewachsen. Er war ein Individualist. Einst, als seine Eltern noch lebten, erschöpfte sich seine Vorstellung von der musikalischen Darstellung im Spiel des Solisten. Die Art, wie er Musik zu sehen gelernt hatte, hatte ihn unbewußt zum Individualisten gemacht.
Hatte ihn die Not schon gezwungen, um des Broterwerbs willen der leichten Muse zu huldigen, so wollte er wenigstens nicht fortwährend durch die Gegenwart anderer flöte- und geigespielender Musiker daran erinnert werden.
Vor zwei Jahren, als er nach Kassel gekommen war, hatte er seine Wanderschaft unterbrochen, weil dem Krugwirt und vor allem dessen Pflegetochter und Magd Maria sein Musizieren gefallen hatte. Wirt und Musiker waren sich einig geworden. Seit diesem Tag spielte Jehu Abend für Abend ohne Begleitung zum Tanz auf. Nur des Sonntags duldete er einen mehr schlechten als rechten Fiedler neben sich.
Nun, heute war ein ganz gewöhnlicher Wochentag. Gewöhnlich zumindest für die, die nicht die Schwere einer Last zu tragen hatten, wie sie auf den schwachen Schultern Jehus ruhte.
Er hatte im Hause der Hirschfelders noch abwarten können, bis Rachel wieder zu sich gekommen war. Dann stellte er erschrocken fest, daß es Zeit war, sich in den Krug zu begeben.
Die ersten Humpen mochten schon unter den Gästen kreisen.
Lachen, Schreien, Pfeifen und Schweißgestank füllten die Wirtsstube, als er eintrat. Ekel stieg ihm in die Kehle. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre davongelaufen. Ein furchtbares Unglück war über die Familie des Mädchens hereingebrochen, das er liebte. Und er, er sollte heitere Weisen zum Tanz aufspielen.
Mit blassem Gesicht, ohne der wohlmeinenden Zurufe zu achten, die ihm von vielen Stammgästen entgegenschollen, wankte er hinüber, in jene Ecke, in der das Instrument stand.
Mit müden Bewegungen öffnete er es. Zögernd glitten seine Finger über die Tasten.
Automatisch griffen sie die Akkorde und Takte eines Tanzliedes. Aber Jehu war nicht bei der Sache. Seine Gedanken weilten nicht bei dem, was die Hände taten.
Ein Schleier zog sich vor seine Augen. Dann war es ihm, als sähe er den alten Hirschfelder aufgebahrt vor sich liegen, bleichen Angesichts, edel noch im Tode.
Wie eine verschwommene Vision tauchte das Innere eines Kirchenschiffes vor ihm auf. Da, über dem Eingang die Empore mit den langen, gewaltigen Pfeifen der Orgel, die durch das Dach bis in den Himmel zu streben schienen. Die brausenden Akkorde und die Läufe der Fugen Bachscher Schöpfung vereinigten sich zu einem himmelanstürmenden Orkan.
»He, Spielmann, was soll das Geklimper? Spielt was Vernünftiges.«
»Hahaha, er denkt, er ist in einer Kirche.«
»He, hallo, wir wollen keine Chorale hören.«
»Bist du nicht ein verdammter Jud und spielst christliche Musik?«
»Kruzitürken, laß das Gedudel. Wir wollen tanzen!«
So und ähnlich erscholl es plötzlich aus allen Ecken der Wirtsstube. Jehu brach sein Spiel ab.
Verwirrt blickte er um sich. Weshalb schimpfte man auf ihn?
Einer der Schreier kam heran, brachte einen Humpen Bier und stellte ihn auf das Cembalo.
Mit dröhnender Stimme meinte er:
»Spiel das Ding von der Hannerl und den Mannerln. Ich mag es halt.«
Nun erst wurde es Jehu Rachmann klar, daß er in die Wiedergabe Bachscher Musik verfallen war. Ohne es zu wollen, natürlich. Es war so über ihn gekommen. Er war ja auch nur ein Mensch. Und in ihm sah es heute eben nicht nach leichter Musik aus.
Er versuchte ein paar Takte des gewünschten Liedes. Plötzlich hieb er mit den Fäusten auf die Tastatur, daß derjenige, der das Bier gebracht hatte, erschrocken ein paar Schritte zurückwich.
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