Ihre Fahrzeuge waren geräumige und feste Häuser auf dem Meer. Doch es graute ihnen vor all dem, was in den Tiefen lauerte. Ihre Sagenwelt kannte titanische Tintenfische mit unzähligen Armen voller Saugnäpfe und schleimige Riesenschnecken... Die Matrosen erzählten etwa, daß ihre Vorgänger von den Seeleuten der Südsee die Kunst des «Tätowierens» gelernt hatten. Diese Bilder zeigen oft Fischfrauen, umgeben von geheimnisvollen Zeichen: Diese sollen den «Mächtigen der Tiefen» beweisen, daß auch die «weißen» Seeleute nicht Eindringlinge in ihr Reich sind. Ihre gefärbte Haut soll zeigen, daß sie zu der Meerfamilie gehören.
So war es wohl bereits in vorgeschichtlichen Zeiten. Schon die kühnen Meerfahrer Skandinaviens, die Wikinger, stellten sich die Tiefen bevölkert mit unfaßbaren Ungetümen vor. Ich erinnere hier nur an die Midgartschlange, deren Bewegungen auf dem Grund der See Erdbeben und vernichtende Stürme bedeuten.
Unsere Zivilisation hat seit dem 18. Jahrhundert die steinzeitlichen Meerkulturen fast ganz aufgelöst und zerstört. Lovecrafts Alpdruck vor der Wiederkehr ihrer «Götter» (und der mit diesen verbundenen Rassen) scheint mir eindeutig: Es ist das schlechte Gewissen des weißen Mannes gegenüber jenen Völkern, die das Meer und dessen Wunder unter allen Menschen am allerbesten kannten.
Adlerschwingen und Felsennester
Der Donnergott der Griechen und Lateiner, Zeus oder Jupiter, reitet auf einem Adler. In der Sage von Ganymed verwandelt er sich sogar in diesen König der Vögel. Die Sage ist uralt: Auch die indische Gottheit Mahavishnu reitet auf dem Adlermenschen Garuda.
Auf einem ähnlichen Wesen fliegt, nach der jüdischen und islamischen Überlieferung, auch Salomo, der König der Könige, durch die Welt. Er kommt zu den geheimsten Plätzen der Erde und lernt alle die Wunder kennen, die der Schöpfer und dessen Engel verbargen: Man kann nicht weise werden, wenn man nicht die Kühnheit des Wundervogels besitzt.
Der Adler fliegt hoch und baut sein Nest an unzugänglichen Felsen. Die Sage schreibt ihm darum einen Überblick und eine Erfahrung zu, um die ihn die anderen Wesen nur beneiden können. Sogar eine geheimnisvolle Quelle, die irgendwo in den Alpen sprudelt, hat er entdeckt: Wer dort badet, der kann sich verjüngen und alle anderen Menschen an Alter übertreffen. Über die Lebensdauer des Adlers hatte man darum phantastische Vorstellungen.
Auch von Dr. Faust, dem Meister der Magie im 16. Jahrhundert, versichert die Überlieferung, er habe «Adlerflügel genommen». Sehr tätigen, aktiven, unternehmungslustigen und mutigen Menschen schrieb die Erfahrung eine Nase zu, «die stark gebogen ist, wie der Adlerschnabel». Die «Adlernase» und die «Adlerflügel» wurden auch für die Dichter zu Sinnbildern des Menschen, den ein großzügiges Denken auszeichnet. Es gibt indische Darstellungen des Garuda, auf denen er als wohlgestalteter Mensch erscheint. Doch auch auf ihnen besitzt er seine weiten Schwingen und die stark hervorragende Schnabelnase.
Adlerfedern steckten sich die kühnen Alpenjäger auf den Hut. Sie sollten ihnen «Adleraugen» schenken. Mit diesen wollten sie ihre Beute und auch die menschlichen Feinde «stets als Erste» erblicken. Auch half ihnen nach dem Volksglauben dieser Schmuck, ohne jedes Schwindelgefühl in die tiefsten Abgründe hinunterzublicken. Eine sehr verbreitete Sage lautet, daß die schönen Mädchen, fast wie die Prinzessinnen im Märchen, ihren Verehrern eine schwere Aufgabe stellten: Sie wollten nur dem gehören, der ihnen eine schöne Adlerfeder aus dem hohen Felsennest herunterbrachte.
Noch immer erkennt man auf den Anhöhen der Gebirge die Überreste von Burgen, der «Felsennester», auf denen einst die Ritter hausten. Es ist eigentlich recht schwer, sich in gewissen Fällen vorzustellen, wie die Arbeiter die Steine und Balken hinaufbrachten. Von den Menschen, die in ihren unbezwingbaren Horsten hausten, wird versichert: Sie konnten gar nicht unten in den «schweren Dünsten» der Tiefe leben. Nicht weniger als die Adler, die sie häufig auf ihre Schilde und Fahnen malen ließen, liebten sie die wilden Luftströmungen Diese brachten ihnen «den Duft der Freiheit».
Von den indischen und tibetanischen Magiern, die hoch im Himalayagebirge zuhause sind, behauptet man noch immer: Vom Vogelmenschen Garuda haben sie die Kunst des Fliegens erlernt. Während sie in unzugänglichen Felsnischen leben, wissen sie alles, was auf dem Erdenrund geschieht. Das Volk glaubt, daß sie durch ihre Siddha-Kunst sogar ihre materiellen Körper völlig schwerelos machen können. Unter den Gebildeten von Asien herrschte seit jeher eine ähnliche Auffassung vor wie in der europäischen Parapsychologie. Die Einsiedler lassen ihren sterblichen Leib in der luftigen Behausung ruhen. Ihr Astralleib fliegt aber «gleich dem Vogelkönig Garuda» durch alle Welten.
Ähnliche Legenden kannte im übrigen auch der christliche Alpenraum. Wie wir schon sahen, soll die Heilige Ida von Tog-genburg aus dem stolzen Bergschloß gestürzt - und sanft auf dem Waldboden angekommen sein. Wohl noch bekannter ist die Geschichte vom Heiligen Bernhard: Noch heute wird das Fenster im Schloß seiner Familie, derer de Menthon, am See von Annecy gezeigt. Aus diesem soll er vor einem Jahrtausend hinausgeschwebt sein. Auch er kam unbeschadet auf der Erde an.
Bezeichnenderweise gilt gerade dieser Mann aus Savoyen bis heute als der himmlische Beschützer des Alpenraums. Die Pilger über gefährliche Pässe, Soldaten im Gebirgskrieg, die Jäger nach Gemsen und Steinböcken sollen ihn noch immer anrufen. Noch heute hilft er, wie man mir mehrfach erzählte, den verwegenen Bergsteigern in ihrer Not.
Am See von Annecy, in Talloires, zeigt man übrigens auch die felsige Einsiedelei des heiligen Germain. Er soll der gute Freund des St. Bernhard gewesen sein. Da er schon alt war, benützte er für den Besuch von Gottesdiensten ebenfalls «die Wege der Luft» (les chemins de l'air).
Im Schloß von Menthon, das noch immer der Familie des Heiligen gehört, wird versichert: Das Bergschloß liegt auf ei nem Felsen und benutzte also ursprünglich keine eigene Quelle. Wasser zum Trinken und Waschen besaß es aber dennoch reichlich - und zwar ausschließlich «vom Himmel her». Durch geschickt um Mauern und Türme angelegte Regentraufen wurde es aufgefangen. Wenn ich, wie etwa beim erwähnten Märchen bei Musäus, von Adlermenschen lese, fällt mir genau die ses Beispiel ein.
Das Dasein der Menschen unserer Vergangenheit war eben unglaublich vielartig. Wahrscheinlich erschien jedem Stamm und jeder Volksgruppe der Lebensstil «der anderen» als phantastisch und ganz und gar märchenhaft. Man begriff ihn nur, wenn man ihn mit dem von bestimmten Tieren verglich.
Über das Treiben der Nachbarn entstanden darum wundersame Legenden, bei denen meist nur eins vergessen wurde: Die eigenen alltäglichen Gewohnheiten erschienen den «Fremden» nicht weniger merkwürdig und erstaunlich.
Vogel-Schamanen zwischen Finnland und Altai
Die großrussischen Sagen, die noch erstaunlich volkstümlich sind, handeln vor allem in der Übergangszeit ins 10. Jahrhundert. Damals breitete sich das griechische Christentum im Osten aus: Ihr geheimer Herrscher ist der «Räuber Nachtigall», ein Heide und Zauberer.
Die Fürsten aus dem Geschlecht der Waräger (Wikinger) hatten, von Kiew aus, ein gewaltiges Reich aufgebaut. Vielbenutzte Handelswege verbanden das Baltische, Schwarze und Kaspische Meer. Unglaubliche Reichtümer von Europa und Asien sammelten sich in den kunstvollen Palästen der Herrscher.
Doch wenn wir den Überlieferungen des Volkes glauben, entstand nach einer Glanzzeit der Kultur ein Niedergang. Neid und Ränke erfüllten die Hauptstadt des Großfürsten Wladimir. Es wurde unmöglich, eine noch so oberflächliche Ordnung im fast grenzenlosen Reich aufrechtzuerhalten: Die Stämme der Jäger und Fischer, die die russische Forschung als «Ural-Altai-Völker» zusammenfaßt, schüttelten jede Oberhoheit ab.
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