Warum wir dem Nöck in unseren Sagen so selten begegnen, habe ich ebenfalls bereits als Kind gelernt. Als ich kaum richtig sprechen konnte, nahm mich meine Großmutter zum Märchenerzählen stets an den «richtigen Ort» mit: Gab es Geschichten um die Waldhexe, schlüpften wir in das leise rauschende Baumdickicht. Ging es um Vögel, wanderten wir auf die nahe Anhöhe, wo man deutlich die Windströme fühlte.
Aber mit den Geschichten um die Lurchleute hatte sie es schwer. Enttäuscht wandte sie sich vom Flußufer ab, und sogar eine eingedämmte Sumpflandschaft am Aarestrom schien ihr nicht zu genügen. Sie wußte genau, wie man sich «denen, die die Wasserkraft besitzen», naht. «Es muß unter den Füßen eine Erde sein, in der die Grenze zwischen festem Boden und der Tiefe undeutlich ist. Alles ist da unsicher, und eine einfache Pfütze ist vielleicht das Tor zu einem weiten Höhlenreich der unterirdischen Gewässer.»
Jede Veränderung der Landschaft verwandelt die Vorstellungswelt ihrer Bewohner. Das folgerichtige Regulieren der Flüsse, das Aufschütten mühsam ausgetrockneter Meerlandschaften zu Nutzungsland hatte stets Folgen: Dies war gleichzeitig das Zurückdrängen der Vorstellungen, die das Volk mit den Wesen der Sumpfländer verband. Ein künstlich gestauter See bleibt auch für Träumer und Dichter meist stumm und tot: «Es ist keine Musik in ihm», sagt etwa das Volk.
Im übrigen erscheinen die «menschenähnlichen» Geschöpfe der Teiche und Sümpfe meistens grün. Man weiß nicht recht: Ist dies ihre Hautfarbe, die ihre nahe Verwandtschaft zum Froschgeschlecht verrät? Stammt der grüne Eindruck von den winzigen Algenpflanzen, die alte Tümpel beleben und an den Bewohnern klebenbleiben?
Im Ernst oder Spaß berichtete man früher im sumpfigen Seeland westlich des Ortes Ins (Anet): Wenn man ausgesprochenes Pech beim Fischen hat, ist es, «weil der Wassermann stört». Er findet wahrscheinlich, es sei gerade Festzeit für seine Herde -der Mensch müsse diese auch einhalten. Seltsamerweise erzählt man selten von weiblichen Gefährtinnen des Nöck, die ein vergleichbares Aussehen haben. Erscheinen neben ihm, der meist als Einsiedler lebt, Frauen, dann sind sie ausgesprochen hübsch im menschlichen Sinn: Sie haben in ihrem Aussehen kaum etwas vom Frosch und sind auch im Sinne «der Nachkommen von Adam und Eva» sehr verlockend. Eigentlich gehören sie eher in die Kapitel über die Nymphen, Najaden und Nereiden.
Geschichten um Froschmenschen finden heute, nach Ein-geborenen-Sagen wie Abenteuerfilmen, höchstens in den letzten fast endlosen Sumpflandschaften statt: Ich erinnere hier vor allem an die wilden Ufer der breiten Ströme von Brasilien. Reisende, die auf Indianerbooten oder Motorschiffen den Amazonas hinauf vorstießen, sollen gelegentlich in der Dämmerung schwimmende Leiber geschaut haben: Sie erinnerten eher an Lurche als an «menschliche Menschen»...
Gelegentlich wurde die Meinung vertreten, die Bewohner der Tropenwälder hätten allerlei gruselerregende Wesen ersonnen, um habgierige Fremde abzuschrecken. Leider macht die heutige Ausbeutung für wirtschaftliche Interessen vor keinen Sagen oder Bräuchen halt. Mit Flammenwerfern werden die von heißen Nebeldämpfen erfüllten Uferdschungel zerstört. Der Schlamm trocknet, und damit verschwindet wieder eine Landschaft, die eher eine Traumwelt zu sein scheint als eine neuzeitliche Wirklichkeit.
Doch der «Froschkönig» des Märchens kann noch vor unseren inneren Augen auftauchen, wenn der Mond über die Nacht herrscht. Dr. P. Landry aus München erklärte schon in den zwanziger Jahren viele unserer Traumerlebnisse aus Eindrücken, die wir von den Ahnen bewahrten: Die Vorfahren des Menschen hätten eben vor Jahrmillionen als Lurche gelebt. Der Biologe Dr. Max Oettli faßt solche Ideen zusammen: «Das ruhige, niemals rasche Fliegen im Traum sei eine Erinnerung an das ehemalige Schwimmen im Wasser.» Landry versichert, daß das «Fliegen» in der Vorstellung der Schläfer gar nicht das eines Vogels sei. «Man schwömme mit den Beinen durch die Luft wie ein Frosch durchs Wasser.»
Für Landry gehört zu unseren Erinnerungen an die Lurche, daß wir im Traum oft nicht mehr zu schreien vermögen: Den Urgeschöpfen - die zwischen den Elementen wechselten - soll es einen verständlichen Eindruck gemacht haben, wenn sie unter Wasser ihre Laute nicht wie an der Luft ausstoßen konnten: Dies war für sie ein Alpdruck, der noch immer in unserem Unterbewußtsein fortlebt und gelegentlich in unseren Träumen auftaucht.
Der erwähnte Oettli widerspricht dem. Die Menschen, die er kenne, hätten eher Vogelträume. Auch hier erkennen wir: Wenn ein Mensch in sein Traumreich geht, reist er dabei durch ganz eigene Welten. Es sind nur selten die gleichen Tiere und Märchenwesen, die jedem von uns in den Traumwelten begegnen: Der eine erlebt sich eher als Wassergeschöpf, der andere schwebt durch die Lüfte ...
Den Fischerstämmen, de an den unsicheren, dauernd überschwemmten Ufern der breiten Flüsse lebten, war es aber sicher ein innerer Wunsch: Im Wasser und auf dem Boden sich gleichermaßen sicher bewegen zu können - das mußte wunderbar sein! Eine Haut zu besitzen, die jeder Giftmücke widerstand, das erschien ihnen geradezu paradiesisch.
Von solchen Bewohnern der Fluß- und Seelandschaften haben wir sicher die Vorstellung des Froschkönigs der einheimischen Fischwelt geerbt: Es gibt Menschen, die sein Aussehen in ihren Träumen, trotz Glotzaugen und Lurchkopf, ausgesprochen niedlich und sogar glückbringend empfinden.
Lovecraft, Cthulhu und die «Großen Alten»
Der amerikanische Schriftsteller Howard Philipps Lovecraft (1890-1937) gilt als Begründer der modernen Horrordichtungen und entsprechender Filme: Wenn wir seine gesammelten Schriften studieren, entdecken wir, daß er selber deren Inhalt gar nicht als reine Phantasie ansah.
Der Dichter und Erforscher seltsamer Schriften hat später versichert: «Mit sechs oder sieben wurde ich beständig von immer wiederkehrenden Alpträumen eigentümlicher Art geplagt. » In seinen Nachtgeschichten begegnete er den Wesen einer eigentümlichen «Rasse». Deren Angehörige besaßen «Hörner, Schuppenschwänze und Fledermausflügel». Sie pflegten die Seele des Kindes «endlose Meilen weit über die Türme toter und furchtbarer Städte durch die schwarze Luft zu tragen».
Solche Traumwelten sind noch heute zahllosen Kindern wohlbekannt. Viele von ihnen fürchten sich davor, andere haben Spaß daran. Diese Angst war vor noch nicht sehr langer Zeit wohlbegründet: Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert galten solche «Seelenreisen», wenn man sie weitererzählte, als Beweise des Bundes eines Menschen mit wilden Tiergöttern: Zahlreiche unserer Vorfahren kamen aus keinem anderen Grund in Folterkammern und auf Scheiterhaufen...
Das Einzigartige an Lovecraft war, daß er in späteren Schul-und Studienjahren seine Träume von den «Nachtrassen» nicht verdrängte und vergaß. Er las darüber eine Unzahl seltener Bücher. Er besuchte in seiner nordamerikanischen Heimat all jene Plätze, um die noch immer unheimliche Sagen raunten: Der Erforscher des Unheimlichen wanderte an der Ostküste zu all jenen geheimnisvollen Steinmalen, die jenen im keltischen Westen Europas recht genau entsprechen.
Möglicherweise haben ihn diese rätselhaften Steine in den Uferländern dazu angeregt, die wahre Heimat seiner tierischen Urrassen in den Tiefen der Ozeane zu suchen. Sei dem wie es wolle: Von Lovecraft sollte der wichtigste Teil der modernen Grusel-Literatur von Amerika ausgehen. Sein Freundeskreis, den er unermüdlich mit seinen Alpträumen anregte, verstärkte seinen Einfluß. Wer sein Werk kennt, erblickt die wohl tausendfachen Auswirkungen seiner Horrorbilder in der Massenkunst von Comics, Filmen und Fernseh-Serien.
Sehr wichtig scheint uns die geistige Entwicklung dieses Mannes, der mit den Schrecken aus seinen urzeitlichen Träumen die Gegenwart so nachdrücklich prägte. Er, der seine Sagen so erzählte, daß sie den Zivilisierten Gänsehaut einjagten, ist heute selber zur Sagengestalt geworden: Leider ist nur schwer zu überprüfen, welche Züge seiner Lebensgeschichte stimmen - und welche von Freund und Feind erfunden wurden.
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