Musäus hat sicher recht getan. Er nennt die altgriechische Magierin, die bei Homer vorkommt, mit vorgeschichtlichen Druiden und einer Hexe aus der Zeit von Kaiser Karl dem Großen im gleichen Atemzuge! Sie hausten schließlich alle im Umkreis einer ursprünglichen Umwelt. Sie verstanden nach den Volkssagen die Kunst, sich selber in Tiere zu verwandeln - und diese Geheimwissenschaft ihren kühnen Gästen zu vermitteln.
Tiere sind ihre Freunde uid Mitarbeiter. Am meisten werden in unseren Sagen als ihre treuen Wohngenossen genannt: Katzen, Raben, Eulen, Fledermäuse, Schlangen - aber noch viele andere. Die Weisen Frauen gehen auf diese Tiere ein, sprechen mit ihnen wie mit Menschen, sie kennen offensichtlich ihre Sprachen. Die Tiere verraten ihnen alle Geheimnisse der Nacht und des Walddickichts.
In den recht verschiedenen Religionen Indiens gilt das Schlangenvolk der Nagas vor allem als zuverlässiger Beschützer der unberührten Natur und ihrer Geschöpfe. Ganz besonders ist es um die Erhaltung der Quellen und des frischen Wassers besorgt: Unsere abendländischen Sagen um Schlangen und Schlangenmenschen stimmen damit überein.
Unsere materialistische Zivilisation hat gerade in jenen Bereichen gesündigt, die für dieses Tiervolk wichtig sind. Aus die sem Grund erlebt heute die «Verehrung der Nagas» unter den zahlreichen Buddhisten der einstigen Sowjetunion eine deutliche Wiedergeburt: Man hat diese Religion lange (1917-1990) mit ausgesuchter Grausamkeit unterdrückt. Sie blüht heute wieder auf, gerade weil sie die Tiere und Naturgeister als Freunde und Geschwister des Menschen ansieht.
Die Herrschenden aus den Tiefen
Wahrsager Proteus: Hirt der Robbenherden
Das alte Griechenland betrachtete sich als Mittelpunkt der Erde. Sie glaubten, von hier aus den guten Überblick zu haben: Viele Geschöpfe aus Europa, Asien und Afrika scheinen der antiken Kultur seit jeher gleichermaßen bekannt gewesen zu sein.
Die Seehunde, Robben, Phoken und Seekälber bringt unsere Vorstellung meistens mit nordischen Meeren in Verbindung. Sie wurden aber von den Menschen des Altertums in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft beobachtet: Ihre Bewegungen im Wasser und an den Ufern, ihr Spielen erregte die Phantasie und wirkte auf die Beobachter der Antike.
Der Hirt und Hüter dieser Wesen ist der Meergott Proteus, der mit unglaublicher Geschwindigkeit seine äußere Gestalt verändern kann. Bei Homer und anderen Dichtern entsteigt er am heißen Mittag dem Wasser und schläft in den Schatten, die ihm das gastliche Land schenkt. Um ihn im Kreise ruhen seine treuen Robben. Sie sind, wie er, Geschöpfe, die für ihr Gedeihen gleichermaßen Wasser, Erde und Luft brauchen.
Die Beweglichkeit und Verwandlungsfähigkeit des Robbengottes Proteus erzeugte die allgemeine Überzeugung: Kein Wesen unserer Welt vermochte so deutlich die Ereignisse der Zukunft vorauszuschauen wie er. Um ihm zu nahen und von ihm seine Weisheiten zu vernehmen, wandten die griechischen Krieger eine List an, wie sie auch die sibirischen Jäger kennen: Die Helden des trojanischen Krieges, Menelaos und seine Gefährten, bedeckten sich mit den Häuten von erbeuteten Meerkälbern. Sie mischten sich unter die ruhende Herde und näherten sich so dem weisen und vorsichtigen Proteus. So konnten sie ihn zwingen, ihnen die Wahrheit über die Zukunft der Griechen zu enthüllen. Wiederum müssen wir hier an die Naturmagie der Polarvölker denken: Wie man weiß, hüllen sich deren Schamanen und Schamaninnen in die Felle ihrer Lieblingstiere. Sie ahmen diese auch in allen Bewegungen nach.
So wollen die Jägerstämme des hohen Nordens mit den Kräften ihrer Umwelt in Verbindung treten. Was diese Wesen mit ihren wachen Sinnen empfinden, wollen sie so auskundschaften und erkennen: Den drohenden Sturm, das Herannahen der tierischen Beute, oder gar das Anschleichen eines feindlichen Kriegers.
Die Deuter der griechischen Mythen wiesen bereits darauf hin, daß das Treiben der Robben auf den Beobachter eine magische Wirkung ausübt. Die Wassergeschöpfe liegen meist am Ufer, weil sie sich gern besonnen lassen. Wahrscheinlich brauchen sie die Wärme, um sich lange in den kalten Meerestiefen aufhalten zu können. Wenn sie etwas Ungewöhnliches an Land bemerken, tauchen sie sehr rasch in die kalten Wasser. Hier fühlen sie sich erst völlig sicher: Ihr Erscheinen und Verschwinden kann sich dabei so schnell vollziehen, daß das menschliche Auge ihnen nicht ganz zu folgen vermag. Leicht glaubt man dabei die eigenartigsten Gestalten zu schauen. Augentäuschungen waren bei der unsicheren Sicht häufig. Die Vorstellung eines Meerhirten Proteus, der sich dauernd verwandelt, war also sehr naheliegend.
Die Märchen der Uferbewohner über die Robben finden sich noch in den naturwissenschaftlichen Büchern des Altertums: Nach Plinius soll das Fell des Tieres, sogar wenn es von dessen Körper abgezogen wurde, mit dem Meer in magischer Verbindung stehen. Jedesmal, wenn die Zeit der Ebbe naht, also das Wasser vom Ufer zurückströmt, sollen sich demnach die Haare an der Robbenhaut sträuben. Mit anderen Worten: Wenn man auf dem Robbenfell schlief, konnte man sich in unmittelbarer Verbindung mit dem Leben im Wasser fühlen.
Der gleiche Naturforscher versichert, daß sich gewisse Leute zu seiner Zeit sogar Zelte aus Seehundfell herstellten. Sie waren fest überzeugt, daß noch nie eine Robbe vom Blitz getroffen worden sei. Sie eilten also, wenn sich die Gewitter zusammenballten, in ihre Behausungen aus der Wunderhaut. Hier glaubten sie sich vor jeder Gefahr geschützt. Sie fühlten sich am Land im sicheren Reich der Meeresgötter.
In Übereinstimmung damit versichert uns der römische Geschichtsschreiber Suetonius: Auch der Kaiser Octavianus Augustus wurde von Blitz und Donner geängstigt. Er war aber ebenfalls überzeugt, daß der zuverlässigste Schutz gegen diese Naturgefahren das Seehundfell sei. Also trug er immer ein solches bei sich. Die Überzeugung von den einzigartigen Eigenschaften des Tieres durchdrang also das ganze griechisch-lateinische Altertum. Sein Dasein im Grenzgebiet zwischen den Elementen erschien den Alten beneidenswert.
Lucian hat versichert, der Robbenhirt Proteus sei die Erinnerung an einen bedeutenden Gaukler oder pantomimischen Tänzer. Auch in diesem Hinweis haben wir die Erinnerung an die Tiertänze, die wir schon in den steinzeitlichen Höhlenbildern finden. Sie leben in den Spielen der Schamanen, die sich Felle anziehen und Tierbewegungen nachahmen. Die alten Jagdvölker glaubten, so mit den dargestellten Tierarten in Verbindung zu treten. Sie hofften dadurch diese «Geschwister des Menschen» besser zu begreifen und so an deren Energie teilhaftig zu werden. Es ist tatsächlich einleuchtend, daß wir hier am Ursprung vieler Künste stehen: Aus der aufmerksamen Beobachtung und der Nachahmung der verschiedenen Tierarten begreifen wir vieles am Treiben der Pantomimen und Theater-Tänzer.
In unseren Sagen und Märchen kommt sehr häufig der Nöck vor, der Nixenmann, der im tiefen Wasser haust und eher selten an der Oberfläche auftaucht: Im Mondschein sitzt er am Ufer und spielt verführerische Weisen. Er soll früher die Menschenfrauen zu sich gelockt haben, als wäre er ein echter Wasser-Satyr.
Er ist heute in großen Teilen Europas fast vergessen. Nur die Bilder in Märchenbüchern verraten, daß ihn unsere Kinder noch uneingeschränkt lieben. Seine Haut wirkt auf solchen Darstellungen froschartig feucht und glatt. Sein Kopf ist rundlich, seine Augen springen vor, die Nase ist platt. Selbstverständlich wachsen ihm zwischen seinen Fingern und Zehen nützliche Schwimmhäute. Wenn er auf seltsamen Musikinstrumenten seine Weisen erschallen läßt, sollen die Frösche im Umkreis voller Bewunderung schweigen. Von Zigeunermusikern, die viel konnten, sagte man etwa zum Spaß: «Das haben sie vom Wassermann gelernt.»
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