Unbestritten war er nicht nur als Kind ein großer Träumer. Er neigte auch zur klassischen Bildung. Schon als Zwölfjähriger soll er die griechischen Göttersagen gekannt haben. Er übersetzte offenbar selbst die Metamorphosen von Ovid. Man versichert, unter seinen Verwandten habe es merkwürdige Menschen gegeben, die fest an die Wirklichkeit der uralten Sagen glaubten. Seine Großmutter Robbie Philipps stand im Rufe, eine Hexe zu sein und einer Gemeinschaft (Coven) von gleichgesinnten Frauen anzugehören. Sein Großvater Whipple Philipps soll eine sehr bedeutende Bibliothek okkulter Schriften besessen haben: Bücher der hermetischen Tradition, Zauberwerke (Grimoires), seltene Privatdrucke.
Regelmäßig wird uns versichert, in dieser Bücherei habe sich auch das alte Schlüsselbuch der Geheimlehren «Picatrix» befunden. Es soll vom griechischen Weisen Hippokrates stammen und war dann im Mittelalter bei den spanischen Arabern ein Lehrbuch der Magie. Durch Kaiser Maximilian kamen Abschriften nach Wien. Sie beeinflußten sehr stark die europäischen Geheimwissenschaften. Wir sehen dies etwa an der Okkulten Philosophie von Cornelius Agrippa von Nettesheim.
Gerade für seine «Lieblinge», die gestaltlosen Geschöpfe der Meerestiefen, hat Lovecraft viele Anregungen aus den Schriften der Theosophen erhalten. Da ist auf alle Fälle das Buch Dzyan, das die ukrainische Deutsche Helena Blavatsky (eine geborene Gräfin von Hahn) aus tibetanisch-indischen Geheimbibliotheken erhalten haben will. Dazu kommen noch die Schriften anderer Verfasser der gleichen mystischen Richtung, etwa Scott-Elliot oder Nikolai Roerich: Ich habe bisher leider keinen Vergleich von Stellen aus Lovecrafts Werk mit denen der Bücher der Theosophen und Sammler von Hexengeschichten gesehen: Dieser würde uns zeigen, daß er weniger ein Phantast war als ein eigenwilliger Antiquar, ein Sammler der Kuriositäten des 18. und 19. Jahrhunderts.

Der indische Gott Maha-Vishnu, der vorderasiatische Dagon: Beide gelten als Sinnbild des Lebens, das, «als die Schöpfungjung war», den aufschäumenden Wasserfluten entstieg.
Den Schlüssel zu seiner Welt übermenschlich kluger, aber meistens knochenloser, ihre Gestalt wechselnden Wasserwesen will er aber vor allem in seinem umstrittenen Buch Necrono-micon gefunden haben. Er erzählte darüber so häufig und lebhaft, daß bald eine Unzahl von englischen und nordamerikanischen Erforschern des Geheimnisvollen fest überzeugt war, es gebe dieses Werk wirklich. Kaum starb der Schriftsteller, schon suchte man das Werk in den Antiquariaten. Mehrfach gaben seither Verlage Schriften heraus und behaupteten, diese seien die rätselhafte Quelle des Dichters der Gespensterwesen...
Angeblich aus dem Necronomicon stammende Zauber-Anleitungen werden in Amerika häufig benützt, um dank der großen Herren der Meerestiefen zu Einfluß und Macht zu kommen. Es entstand der Esoteric Order of Dagon, der sich nach einer orientalischen Meergottheit nennt. Er verkündet das Nahen des Zeitalters von Cthulhu, des gewaltigen Meisters der unerforschbaren Abgründe.
Alpdruck, den Ozeanen entstiegen
Immer mehr Zeitgenossen zeigen sich überzeugt, der Dichter aus dem amerikanischen Neu-England habe kaum eine seiner Hauptgestalten erfunden. Sie preisen ihn, der bei Lebzeiten kaum bekannt war, als den Wiederentdecker und Neuschöpfer urzeitlicher Überlieferungen.
Hin Freund von Lovecraft, August Derleth, will einen Brief von ihm besitzen, in dem steht: «Alle meine Erzählungen, so unzusammenhängend sie sein mögen, beruhen auf der grundlegenden Überlieferung oder Legende, daß diese Welt einst von einer anderen (also völlig nichtmenschlichen, S. G.) Rasse bewohnt wurde... Diese Wesen leben aber draußen weiter, ständig darauf lauernd, diese Welt wieder in Besitz zu nehmen.»
Wir dürfen eins nicht vergessen: Lovecraft sah seine englischen Vorfahren und sich selbst als Puritaner. Er war mißtrauisch gegenüber jeder Erotik und Sexualität der Farbigen. Er fürchtete sich, wie einige seiner ernsthaften Jugendaufsätze beweisen, vor der geistigen Welt der «Mischlingsrasse». Durch deren Magieglauben, davon war er überzeugt, werde die Welt der Zivilisation des weißen Mannes ins Wanken geraten. In deren Schwächung durch den ersten Weltkrieg und die anschließenden Krisen und Umwälzungen sah er die entscheidende Gefahr für die angelsächsische Weltordnung.
Unter den Mischlingsrassen, die damals nach Nordamerika einwanderten, verstand er die Mexikaner wie auch die europäischen Slawen. Irgendwie am unheimlichsten wirken aber in seinen späteren Erzählungen die Südsee-Insulaner: Diese Menschen aus dem endlosen Meer verehren den Mollusken-Gott Ctulhu. Sie sind selbst nicht ganz menschlich und können sich in unfaßbare Meerwesen verwandeln.
Man nehme als Muster für diese Bilderwelt eins seiner bekanntesten Werke, The Shadow over Innsmouth (Der Schatten über Innsmouth). Die Tiermenschen sind hier dabei, Nordamerika zu unterwandern und für ihre Götter zu erobern.
Die Handlung spielt in einem bedeutungslosen Fischerstädtchen, wiederum an der Ostküste seines Landes. Doch obwohl die Einwohner vom Pazifischen oder Stillen Ozean durch den ganzen Erdteil getrennt sind, nehmen die Tiermenschen langsam aber stetig zu. Ein Kapitän bringt eine Frau aus der Südsee in die kleine Gemeinde. Die beiden bekommen Kinder, und bald wandert aus den fernen Inseln noch anderes Volk ein, das «nicht ganz menschlich» ist.
Bei Lovecraft wird nun ausführlich erzählt: «Vielleicht haben sie davon gehört... welche seltsamen Häfen die Schiffe aus New England in Afrika, Asien, der Südsee und sonstwo anle gen und welche merkwürdigen Menschen sie manchmal an Bord halten... In Salem lebt zum Beispiel ein Mann, der seine Frau aus China mitbrachte, und auf Cape Cod existiert noch heute eine ganze Kolonie von Fidschi-Insulanern.»
Das geschilderte Städtchen eignet sich ausgezeichnet für die Rasse, die auf ihre Verwandtschaft mit den Wesen der Meertiefen stolz ist. Der Ort liegt nicht nur an der See. Auf der Landseite ist er von unzähligen Flußläufen und Sümpfen umgeben: Er ist also ein Teil jener Wasserwelt, aus der die geheimen Eroberer stammen.
Nach und nach gewinnt der «Geheimbund» der Menschen, die mehr oder weniger der Rasse der schleimigen Molluskenwesen der Tiefe entstammen, die Oberhand. Sie leben zwar noch in den Uferstädten, ihr ganzes Denken und Handeln strebt aber zum Element Wasser. Dies bringt ihnen auf alle Fälle einen Vorteil, den auch ihre entsetzten Nachbarn erkennen: Nie mehr herrscht in ihrem Umkreis Mangel an erstklassigen Fischen.
Lovecraft hatte zweifellos in einem recht: Gewisse Stämme der Südseeinseln waren die kühnsten Seefahrer und Fischer der Welt. Wie sie auf ihren schwachen Nußschalen die Weiten des gewaltigen Ozeans bezwangen, gehört zu den unsterblichen Ruhmestaten der Menschheitsgeschichte. Die Bildwerke der Osterinsel, die unser Dichter mehrfach erwähnt, scheinen eine heute verschwundene Hochkultur zu beweisen.
Der phantasievolle Forscher md Mystiker James Church-ward wollte aufgrund von Schriftzeichen und übereinstimmenden Kulten in der Südsee die Urkultur «Mu» finden. Für Lovecraft brachten gerade seine umstrittenen Forschungen eine willkommene Bestätigung. Nicht nur das ganze Leben käme demnach aus dem Weltmeer, auch viele der ersten Sagen besäßen ihre Wurzeln in der grenzenlosen Wasserwelt.
Bereits die alten Seefahrer der Südsee glaubten, daß in den unmeßbaren Tiefen unvorstellbare Geschöpfe hausten. Doch sie wußten diese Furcht zu überwinden und verstanden sich gelegentlich als Freunde der Tiefen. Die späteren «christlichen» Seefahrer besaßen festere Schiffe, aber sicher nicht den gleichen starken Geist der Südsee-Einwohner.
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