Wahrscheinlich haben wir hier eine ähnliche Gegebenheit wie in unseren eigenen Hexensagen. Auch hier kann bekanntlich eine weise Frau oder ein weiser Mann ein eher angenehmes menschliches Aussehen besitzen. Ihre Seelen können aber aus dem menschlichen Leib fahren und dabei eine halbwegs tierische Gestalt annehmen. Sie «reiten dann auf dem Sturm wie auf einem wilden Roß oder Drachen». Als Geschöpfe des Schreckens werfen dann diese Wettergeister Eis und Flammen auf die Erde.
Die Fischer erzählten noch in unserem Jahrhundert auf den Inseln der Mittelmeerküsten, daß es solche Wesen gibt: Die alten Griechen hätten aber bei ihrer kühnen Schiffahrt gewußt, wie man durch gute Gedanken «an die schützenden Mächte des Meeres» sich vor der Gefahr dieser Geschöpfe bewahrt. Mein Vater schilderte mir das Fortleben solcher Schutzbräuche unter den Christen der Ostkirche! Man ging vor dem Einschiffen ins Gotteshaus und rief die entsprechenden Heiligen an. Auch ein andersgläubiger Matrose war gezwungen, hier mitzumachen, sonst hätte man ihm bei einem Unglück im Sturm die Schuld gegeben ... Gerade der Steuermann sollte am Anfang seiner Wache beten und sich vorstellen, wie sein Schutzengel über ihm schwebte. Von dessen weißen Flügeln ging eine Kraft aus, die alle Harpyenhexen zu vertreiben vermochte.

Die Sturmvögel sind den Seeleuten bald mordgierige «pfeilschnelle» Ungetüme - und dann wieder voll geheimnisvoll lockendem Liebreiz.
Im übrigen wußte das Seevolk bis in die Gegenwart, daß gerade die Griechen ihre Ungetüme der Stürme eigentlich auch schätzten. Sie wußten, daß gerade ihre Geschichten von den Angriffen der Sturmgeschöpfe eine für ihr Volk einträgliche Wirkung ausübten: Der Mehrzahl der Zuhörer fuhr bei diesen Berichten die bange Furcht in die Knochen.
Die erzwungene Reise durch die von Harpyen und ähnlichen Wesen beherrschten Meere kam den Furchtsamen wie eine qualvolle Todesstrafe vor. Sie überließen die Seefahrt neidlos den kühnen Matrosen. Diese waren schon von Kindheit an die Schrecken der See gewohnt. Ihr Mut war es schließlich, der ihnen die Pforten zu den fernen Kulturen und den Reichtümern der fremden Küsten eröffnete.
Auch die Alpen waren nach der Überlieferung noch vor kaum mehr als ein, zwei Jahrhunderten ziemlich menschenleer. Hier wird uns die Beziehung zu den Sturmgewalten ähnlich mitgeteilt. Die Menschen der «Bergberufe», all die Jäger und Kräutersammlerinnen wollten die Reichtümer des Bergs nicht mit Talmenschen teilen. Sie kannten schließlich die oft grauenhaften Wirkungen der Sturmgeister. In einem gefahrvollen Dasein durch viele Geschlechter hatten sie erlernt, trotz der entfesselten Naturmächte zu überleben. Sie glaubten ebenfalls, daß es gegen die Naturdrohungen ein fast sicheres Gegenmittel gibt: Die Erfahrung.
Sie waren stolz, sozusagen als Freunde oder Geschwister der Sturmgewalten zu gelten. Das ermöglichte ihnen einen Wohlstand, um den sie niemand beneidete. Sie führten ein freies Dasein, gleich den Seefahrern aus dem Zeitalter des Odysseus oder der Argonauten.
Eulenmasken tanzen im Mondschein
Unter der Verbindung zwischen Eule und Mensch ist in der Sagenwelt wohl als berühmteste die Göttin Athena oder Minerva zu nennen. Sie erscheint als Beschützerin von Städten, ganzen Ländern oder von einzelnen Helden. Fast immer wird sie dabei vom Vogel der Nacht begleitet. Die wunderbare und jungfräuliche Himmelfrau ist eine Tochter des Gewittergottes Zeus. Sie soll unmittelbar aus seinem Kopf, also seinem unsterblichen Geist, entstanden sein. Gelegentlich ist ihr Gesicht von ihrem Wunderhelm völlig verdeckt: Ihr ganzes Wesen gilt als undurchdringliches Geheimnis, ein Eindruck, der durch ihr Eulen-Sinnbild noch verstärkt wird.
Athena oder Minerva war wohl nach dem ursprünglichen Glauben der Griechen selber eine Eulen-Frau. Sie konnte sich also, genau wie unsere Hexen, in eine Eule verwandeln. Dafür spricht unter anderem ihr Beiname Glaukopis, was man als die «Eulenäugige» verstand: Sie bewegt sich eben auch in der Dunkelheit; alles sieht sie, was unseren schwachen Augen verborgen ist. Athene kann sogar in den Gedanken der Menschen le sen wie in einem aufgeschlagenen Buche.
Man hat aber dieser Übersetzung nachträglich widersprochen. Glaukos ist zwar tatsächlich der zweite Fall des griechischen Hauptworts, das Eule bedeutet. Es gibt aber auch ein Eigenschaftswort glaukos, das funkelnd, bläulich aufleuchtend, glänzend bedeutet: Das wäre wohl ein Hinweis auf den Blitz, die Waffe ihres Vaters. Aus dieser unendlichen Kraft soll sie schließlich entstanden sein.
Wahrscheinlich liegt darin kaum ein Widerspruch. Die Alten haben sicher, wenn sie sich die geheimnisvolle, lautlos auftauchende Göttin vorstellten, an beide Worte ihrer Sprache gedacht. Das eine und das andere waren deutliche Hinweise auf die Wundermacht ihrer durchdringenden Blicke:
Ihre Augen glichen denen einer Eule - und leuchteten im Dunkeln wie fernes Aufblitzen! Auch unser eigener Volksglaube bewundert schließlich die «phosphoreszierenden» Blicke des Nachtvogels. Man verglich sie deswegen auch mit denen der Katze.
In der «Wilden Jagd» unserer Sagen fliegen auch viele Eulen mit, die meist als verwandelte Menschen gelten. Die bedeutenden Sagenforscher des letzten Jahrhunderts wie etwa Nork und Friedreich sahen hier eine echte Naturerscheinung. Die Ursache sollte wiederum das Eulentreiben sein: «Brausend und schnaubend zieht der Zug des Wilden Heeres vorüber. Wer sich in der Nähe befindet, bemerkt feurige, schnell umherfahrende Punkte... Es rührt dieses Gbschrei von den Kriegen und Spielen der Eulen her.» Diese versammeln sich in der Zeit der Begattung. Der hohe Laut «Hu», den sie dabei ausstoßen, gleicht dem starken Jauchzen eines Menschen: Dies ist der eigentliche Paarungsruf. Das Weibchen antwortet darauf dem Männchen mit einem lauten Kreischen.
Man nehme dazu noch das Aufleuchten der Augen des leidenschaftlich herumflatternden Vogels. Nun hat man ziemlich alles, was das Volk mit der Wilden Jagd in Verbindung brachte! Der bernische Sagensammler und Psychologe Hans Zulliger hat mir aber versichert, daß das Volk immer wußte, daß am «Wüetis-Heer» vieles auf Naturerscheinungen zurückgehe. Trotzdem erschien der ganze Vorgang als etwas «Magisches». Die Hexen bevorzugten eben die Nächte, in denen sich die Tiere ihren Liebesbräuchen hingaben. Gerade wenn es etwa die Eulen oder Katzen «wild trieben», glaubte man Wald und Flur von überschäumender Energie der Erde erfüllt.
Wenn es in der Finsternis so richtig unruhig wurde, schwer bestimmbare Geräusche aufklangen, Augen aufblitzten, war man fest überzeugt: Neue Kraft fährt nun durch die Welt. Auch der Mensch kann dies erfühlen und durch sie Stärke und Gesundheit gewinnen.
Im Lateinischen bedeutet Striga - Eule und Hexe. Im Italienischen wird das Wort zu Stregha. Gerade in der Toscana sollen die Weisen Frauen noch immer die antike Kunst ihres Volkes kennen, für Traumreisen nächtlich aus ihren Körpern zu treten. Mit lautlosen Flügelschlägen schweben sie dann über der schlafenden Landschaft. Nur Menschen, «die auch Eulenaugen besitzen», sollen sie als mächtige Vogelschatten über den Himmel dahinziehen sehen.
Aus dem Zeitalter der stärksten Ausdehnung der griechischlateinischen Kultur drang der Ausdruck auch in den Alpenraum. Die Hexe nennt man hier (neben Strunze) auch «Sträg-gele» oder «Sträggle». Die gespenstischen Gestalten dieser Geschöpfe schauen im übrigen darauf, daß die Frauen ihre weiblichen Arbeiten wohl beherrschen. Hier liegt die Erinnerung an die Zeit, da die Hexen noch priesterliche Aufgaben hatten: Sie lehrten in ihren Waldhütten und Höhlen den Mädchen die Bräuche und das Handwerk der Ahnen.
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