Um 1900 besang er dieses Wunderwesen Sirin: «Sein Blick ist erfüllt mit Glückseligkeiten, die nicht von dieser Welt sind.» Alles in ihm erfühlt die geheime Lebensflut des Frühlings. Seine Federn, seine Flügel sind eigentlich vor allem dazu da, die ewigen Lichtströme zu empfangen und weiterzugeben.
Schon früh erkannte die Forschung, daß dieser Sirin-Vogel noch unmittelbar mit den Sirenen der Griechen zusammenhängt. Der Kunstmaler Iwan Bilibin (1876-1942) war dafür berühmt, daß er Märchenstoffe wieder auferweckte. Bald schmückten sie als Bühnenbilder Oper und Ballett. Meine Eltern kannten ihn noch gut. Sie begegneten ihm in Paris, wo er in den Dreißigern als Flüchtling weilte. Gerade im Sirin sah er einen Beweis für das «geheime Überleben» des Griechentums in der ostslawischen Volkskultur.
Doch die Zeit war kaum reif für die Ahnungen der Künstler. Gerade gegen Alexander Blök wurde, besonders wegen der Liebe zum Paradiesvogel, ein damals schwerer Vorwurf erhoben: Er solle sich schämen, sich mit «sowas» zu beschäftigen. Dies vor allem in einer Zeit, da an den Universitäten die Weltrevolution vorbereitet werde! Für dieses Ziel müsse man mit allen seinen Kräften mitwirken und nicht irgendwelche mystischen Märchen ausgraben und neu verbreiten... Wie es mir 1956 ein anderer russischer Dichter und großer Kenner der Tierlegenden, Alexej Remizow, sagte: «Doch der Vogel Sirin wurde zu einem verständlichen Sinnbild für alle Künstler. Gerade diese Menschen waren überzeugt, daß keine gewaltsame Umwälzung unsere Erde im guten Sinne verwandeln könnte. Sie erwarteten das Glück, das Paradies, nur durch das Finden der inneren Seelenkräfte.»
Sirin wurde gerade unter den gebildeten Flüchtlingen der Sowjetunion zum Sinnbild unserer schönsten Sehnsucht. Häufig hatten die Kinder der in bitterster Armut lebenden Heimatlosen erstaunliche Träume. Bilder aus dem verlorenen Land, das sie selbst nie geschaut hatten, stiegen in ihnen auf. Wenn sie dann am Morgen davon erzählten, flüsterten die Eltern andächtig: «Der Vogel Sirin sang es ihnen.»
Meine Mutter schrieb noch 1942 ein Gedicht, in dem eine einsame Flüchtlingsfrau dem Vogel der Freude zuhört. Er verkündet der Unglücklichen, versunken im Wachtraum, das baldige Ende von Trübsinn und Zweifel. Über ihrem Haupt kreisend spricht Sirin, in Lauten, die von allen Seiten zu tönen scheinen: «Er ist dein Bräutigam, dein Falke, dein Fürst.»
Diese Ausdrücke bedürfen einer Erklärung. Sie stehen seit jeher im griechisch-slawischen Osten für das Hochgefühl der Liebe: Gerade mit «Falke» und «Fürst» redete man einst den Geliebten an, von dem man erwartete, daß er die große Erfüllung bringe. Man war überzeugt: «Gott selber und die Gottesmutter, die Sterne am Himmel» hätten ihn dem Mädchen zugesprochen. «Ihn» auf Erden zu treffen sei eigentlich das Erhabenste, das ein menschliches Wesen zu erwarten habe.
In den Hochzeitsliedern der Slawen, Rumänen und Neugriechen wird die Verlobung und Ehe buchstäblich «na nebessach», im Himmel geschlossen. Man nennt Braut und Bräutigam bei diesem Anlaß Fürstin und Fürst, gelegentlich auch Kaiserin und Kaiser. Manchmal setzen die Sänger auch alle anwesenden Gäste den Gestirnen, Sonne und Mond gleich. Bei den östlichen Zigeunern nannte man alle Anwesenden bei der Hochzeit «Kinder Gottes»: Auch dies ist ein Ausdruck, den man sonst eigentlich für die Sterne verwendet.
Meine Großmutter pflegte, wenn sie von solchen Bräuchen erzählte, beizufügen: «Natürlich sind solche Ehrungen bei den meisten Liebespaaren völlig übertrieben. Aber sie erfreuen nun einmal auch diejenigen, die in späteren Jahren nur Schlimmes erleben. Es ist für sie schön, mindestens während ihres Festes an das Wunder des großen Glücks zu glauben.»
Wenn aber ein solcher Gesang den Anwesenden «vom ganzen vollen Herzen» zuklingt, dann ist der Sirin, dieser König der Paradiesvögel, in greifbarer Nähe. Wenn seine Flügel wehen, «scheint sogar das Regenwetter freundlich». Alle Farben steigern sich, werden immer leuchtender. Meine Mutter faßte die Überzeugung vieler Dichter, die sie in Prag und Paris kannte, zusammen: «Sirin ist die Freude selber. Er kommt nicht nur aus dem Himmel, er ist der strahlende Himmel in der Gestalt des strahlenden Vogels! Er verwandelt augenblicklich alles, wenn er naht.»
Hier haben wir wiederum eine Vorstellung, die aus den vorgeschichtlichen Tiefen der Zeiten zu uns kam. Sie hat ganz offensichtlich die ewige Jugend bewahrt, die die Griechen so gern ihren göttlichen Wesen zuschrieben.
Unsichtbare Flügel - für fahrende Musiker
Gefiederte Menschen belebten schon das griechische Theater. Ich erinnere nur an die unsterblichen Vögel des Dichters Aristophanes. Die Geschöpfe der Luft kämpfen hier sogar mit den olympischen Göttern um die «Vorherrschaft» im Himmel.
Stämme, die sich als mit den Vögeln verwandt ansahen, beeinflußten auch die neuere Kulturgeschichte. Eine Zigeunersage, die unter anderen Bercovici anführt, versichert, die Nomaden seien einst geflügelt gewesen. Sie seien frei durch die Länder gezogen und hätten schwerelos deren Schönheiten genossen: Das sei ihre berauschende Lust gewesen.
Aus diesem Grunde bleibe das Wandervolk bis in unsere Gegenwart der ewigen Bewegung treu. Im übrigen stamme aus der gleichen Wurzel seine leidenschaftliche Liebe zu den Anhöhen. Kaum sehe die fahrende Sippe einen Berg, schon steige sie hinauf. Von dort aus erfreue sie sich am Weitblick, der sich vor ihren Augen ausbreitet. Gemeinsam lebe in ihnen die Hoffnung, die «verlorenen Flügel» wiederzugewinnen.
Eine alte deutsche Ableitung versteht das Wort «Fahrendes Volk» gar nicht im Sinn von Nomaden. Der Ausdruck «Fahren» bedeutet demnach die Fähigkeit des Fliegens. Unter den Fahrenden lebe eben die Kunst, «auszufahren», mit dem Geiste in Gedankenschnelle durch die Lüfte zu reisen. Das sei ein Hauptgeheimnis des Volkes, das es «in seiner Wandertasche» aus der Ferne mitgebracht habe: Von ihm hätten auch die Hexen das «Fliegen» erlernt.
Möglicherweise haben die Zigeuner ihre Sage von den Vogelmenschen aus ihrer fernen indischen Urheimat mitgebracht. Die hinduistische und namentlich die buddhistische Kunst schätzt solche Wesen unter dem Namen Kinnaras. Sie gehören zu dem in der asiatischen Überlieferung altbezeugten Feenvolk der Gandharven: Hier haben wir Geschöpfe, die als halbgöttliche Wesen gelten wie etwa im Griechischen die äußerlich recht ähnlichen Sirenen. Lebt auch hier die Erinnerung an uralte Musikantenstämme und deren Götter weiter?
Daß zumindest gewisse Zigeunerstämme gerade von den fahrenden Spielleuten Südasiens abstammen, wurde schon mehrfach vermutet. Zumindest von «fahrenden» Musikern, die als Nomaden herumzogen, hat man in Osteuropa immer versichert: Sie nahmen deutlich die Vögel zum Vorbild. Oft trugen sie auffallend bunte Kleider und ein entsprechend stolzes Benehmen zur Schau. Wenn sie nach einem strengen Winter in ein Dorf einzogen, jubelte darüber die Jugend: «Der Frühling ist da, die Wandervögel sind da», hieß es.
Der polnische Schriftsteller Stanislav von Vinzenz sah noch vor dem 1. Weltkrieg in den Bauernhäusern der westlichen Ukraine hübsche Malereien: Aufgrünen Ästen hatte der begabte Volkskünstler musizierende und sehr bunte Vögel gemalt. Sie sangen und spielten für Menschen, die unter ihrem Baume munter umhertanzten. In ihren Krallen hielten sie Geigen und ähnliche Musikinstrumente.
Sie waren vom Standpunkt der Anatomie aus nicht gerade naturgetreu gezeichnet. Die Vögel trugen Menschengesichter mit bräunlicher Hautfarbe, außerdem dunkles und langes Haupthaar und goldene Ohrringe. Mit einem Wort, der Künstler hatte sich beim Malen ziemlich sicher die Musikanten aus einem Zigeunerstamm vorgestellt.
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