Im Luzernischen kennt man noch die «Sträggele -Nacht». Der alte Sprachforscher Stalder weiß darüber: Die Wesen die ser Art sollen «nach dem Volkswahn» besonders vor Weihnachten herumspuken. Ihre Zeit ist die «Fronfastennacht» am Mittwoch vor dem Christfest. Sie bestrafen dann «auf mancherlei Art» die Mädchen, «wenn sie ihr Tagwerk nicht gesponnen»: Sie gelten darum zwar als bedrohlich, jedoch nur für die Faulenzerinnen.
Eigentlich gehören die Sträggele also zu den Mächten der Alpenkultur, die die gute Ordnung in der menschlichen Gesellschaft bewahren. Ähnliches pflegt man von den Eulen zu sagen: Sie wirken zwar (durch ihre Lautlosigkeit) unheimlich, vertilgen aber das Ungeziefer.
Sie sehen alles in der Nacht und werden darum vom Gaunergesindel gefürchtet. Plündern etwa die Schurken nächtlich ein Bauernhaus, fürchten sie, von einer Eule «überflogen» zu werden. Man sagt, daß der Vogel ihre Untat auf geheimnisvolle Art und Weise «weitermelden» kann. Also glauben die Diebe, daß sie nach einer solchen Begegnung erwischt werden.
Wahrscheinlich stammt auch dieser Volksglaube aus einer fernen Zeit, als man überzeugt war, daß die Sträggele, die DorfHexe, durch ihre Begabungen die schlafende Gemeinde bewache.
Die Sirenen erscheinen in der griechischen Dichtung als die wohl höchste Gefahr für die kühnen Seefahrer. Sie sind ebenso verderblich wie süß-lockend. Odysseus stößt auf ihre Insel, als er vom Trojanischen Krieg zurückkehrt. Auch der große Dichter Orpheus, der mit den Argonauten dahinfährt, vernimmt ihren magischen Gesang.
Vorgestellt hat man sie sich bis in unser Mittelalter ziemlich einheitlich. Das Tierbuch Physiologus, das viel Wissen der Grie -chen für die Nachwelt bewahrte, erzählt von ihnen: «Aber wie die Musen selbst, singen sie lieblich mit ihren Stimmen... Die Gestalt haben sie halbteils, bis zu ihrem Nabel, eines Weibes. Zur Hälfte haben sie die Gestalt eines Vogels.»
Wie bei den anderen Tiermenschen oder Menschentieren des Altertums ist die Ableitung und damit der Sinn ihres Namens umstritten. Vielfach wurde vermutet, daß er gar nicht aus dem Griechischen stamme. Er wäre demnach aus der Sprache von uralten Völkern, die in vorgeschichtlicher Zeit die Ufer des Mittelmeeres beherrschten.
Man versuchte es unter anderem mit dem semitischen Wort Sir, das Gesang bedeutet. Gelegentlich übersetzte man es aber auch mit «glänzen, leuchten». In diesem Fall bedeutet die Bezeichnung Sirenen ungefähr das gleiche wie der Name eines der schönsten Sterne, Sirius. Schon im 19. Jahrhundert vermuteten darum die Sagenforscher, die griechischen Dichter hätten in diesen Wunderwesen Geschöpfe von den Gestirnen am Himmel gesehen.
In den türkisch-persischen Dichtungen um den weisen Salomo kommen ebenfalls Vogelmenschen vor. Zu einem von ihnen äußert der König der Könige sein Erstaunen, daß es ein solches Geschöpf überhaupt geben könne. Der geheimnisvolle Gast des Herrschers antwortet ihm: Hier sei er tatsächlich ein vielbestauntes Wunder. In der Welt aber, aus der er stamme, gelte er als etwas sehr Gewöhnliches. Salomo würde, wenn er seine ferne Heimat besuchen könnte, seinerseits wegen seinem Aussehen als etwas Einzigartiges, Erstaunliches bewundert.
Die Sirenen bei Homer sind große Magierinnen. Als sich Odysseus mit seinem Schiff ihrer gefürchteten Insel nähert, tritt plötzlich herrliches Wetter und Windstille ein. Die Vogelfrauen rufen den Helden beim Namen. Sie kennen alles, was sich in Troja ereignete. Sie verwirren also die Schiffsleute mit einem Wissen, das diesen als göttlich erscheint. Ganz offensichtlich lesen sie im Gedächtnis der Menschen wie in einem aufgeschlagenen Buche.
Man fürchtete die Sirenen offenbar wie den Tod. Sie saßen auf einer grünen Wiese, umgeben von Haufen modernder Menschengebeine, so daß die Insel von weitem «ganz weiß» schien. Obwohl die Schiffer die Gefahr genau kannten, vermochten sie selten, dem wundervollen Zaubergesang zu widerstehen: Sie steuerten dem verwunschenen Sirenenland zu -und wurden nie mehr gesehen!

Die Dichter und Seher erzählen seit jeher von märchenhaften «Gefiederten». Sie schenken dem Menschen die berauschende Musik des Glücks.
Spätere Sagensammler suchten nach freundlicheren Deutungen. Die Knochen und Schädel auf der Insel der Vogelfrauen sollten demnach nicht etwa auf «Verunglückte und Schiffbrüchige» hinweisen. Die einstigen Matrosen des Mittelmeeres sollen einfach mit viel Freude an der Märchenküste gelandet sein. Sie blieben dann völlig freiwillig bei den Sirenen und gaben sich dem endlosen Genuß des Lauschens hin. Wie etwa die Helden der keltischen Sagen vergaßen sie dabei völlig ihre Heimat. Sie glaubten, während dieser seligen Beschäftigung vergehe nur eine kurze Zeitspanne. Doch ihre Jahre liefen unterdessen unbarmherzig ab. Das Märchen von der weißen Insel wollte nur eins andeuten: Wer ins Reich der einzigartigen Musikantinnen kam, vermochte es bis zu seinem Tode nicht mehr zu verlassen.
Nur ganz große Helden konnten, nicht ohne Bedauern, weiterziehen. Eben der listenreiche Odysseus, der unbedingt zu seiner Gattin Penelope zurückwollte, oder auch Orpheus, der in alle Geheimnisse der Musik und Natur tiefen Einblick besaß.
Etliche Gebildete des in die Antike verliebten 18. Jahrhunderts erkannten darum als den Sinn der Sage: «Wer sich zur Lieblichkeit der Musik einmal gewöhnet, pflegt ihr beständig . anzuhängen.» Diese Ansicht hat damals sicher viel dazu beigetragen, Europa eine neue und einzigartige Begeisterung für die Kunst zu schenken.
Die Sirenen hat man später, eigentlich bis in die Gegenwart, gerne mit den Nereiden, Oceaniden oder Nixen verwechselt: Dann stellte man sich auch sie mit Fischschwänzen vor.
Das ist verständlich: Man fand es störend, daß ausgerechnet Luftwesen mit Flügeln und Federn auf Meerinseln hausen sollten, um dort Seeleute und Fischer zu gefährden. Vogelgeschöpfe versetzte man sonst in den Märchen viel lieber auf windige Anhöhen oder in wunderbare Wälder.
Doch das Wasser war nun einmal für die Griechen die Gebärmutter aller Lebewesen. Dauernd sollten ihm durch die Lebensenergien der Tiefen neue Mischwesen entsteigen. Auch in der süddeutschen Sage finden sich schließlich deutliche Erinnerungen an solche Gedankengänge. Da heißt es etwa von der Zeit «einst, ehe noch trockenes Land bestand»: Da seien alle Geschöpfe, sogar die Ahnen unserer Land- und Bergkobolde «im Wasser» gewesen. Dann habe ein mächtiger Blitz in die Fluten gezündet und «Zwerge, Männer und Weiber» auf den Erdboden geschleudert. Gleichzeitig hätten alle diese Wesen ihre «Hütchen», wohl eine Art Tarnkappen, verloren: Also die Eigenschaften, die ihnen das Dasein «in der Flut» ermöglichten.
Wie der Sagenforscher Otto Henne-Am Rhyn nachzuweisen suchte, sah man einst die Wasserwesen als «von den Gestirnen stammend». Sie galten also als nahe Verwandte der nachträglich kommenden Landwesen, aber noch viel ursprünglicher als diese. Im Zusammenhang mit einer urzeitlichen Abkunft stand ihre Kunst der Vorausschau, des Wahrsagens und der magischen Musik.
Der aus dem russischen Bauerntum stammende Dichter Kljuew besang den «Vogel Sirin»: Er ist der eigentliche Bote der menschlichen Freude. Als Bewohner des Paradieses besitzt er das Antlitz und die Brust eines vollkommenen Weibes. Von sich selber kündet er: «Wem ich singe, der wird ewig leben.»
Dieser Wundervogel aus den ostslawischen Legenden und der Kunst wurde um die Jahrhundertwende als Symbol entdeckt. 1896 erschien er auf einem Gemälde von W. Wassnezow, das sehr beachtet wurde. Hier wurde der große Dichter Alexander Blök zu einigen seiner Meisterverse angeregt.
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