Der große Naturforscher Plinius versichert, ein Mädchen werde «mannstoll», sobald es die Wurzel dieser Wunderpflanze in der Hand halte - «bis sie darinnen warm werde». Heinse ergänzt: «Eben diese Wirkung soll sie auch bei den Männern hervorbringen.» Noch unsere alten Kräuterbücher, die gerade von den Hirten und Bauern der Alpenländer als hoher Schatz aufbewahrt wurden, sind voller Hinweise: Gelegentlich wird sogar die Geilheit der Böcke und Ziegen auf den Genuß dieses Krauts zurückgeführt.
Unsere Gebirgssagen decken sich in dieser Beziehung mit denen der Neugriechen, deren Volkskultur mein Onkel jahrelang studieren konnte: Die Hirten haben an ihren angeblich so kräuterkundigen Tieren die Wirkungen bestimmter Pflanzen beobachtet. Dadurch hätten sie nach und nach selber körperliche Eigenschaften entwickelt, die ihnen einen geradezu übermenschlichen Ruf einbrachten. Trotz ihrer eher einfachen, ursprünglichen Lebensweise in Höhlen und Hütten galten sie aus diesem Grund bei den Gebildeten der Städte als wahre Übermenschen. Mancher von ihnen soll darum mit seinen Gesundheitsratschlägen viel mehr verdient haben als mit seinem Hauptberuf des Tierhütens.
Auch nach Dioscorides empfahlen die Frauen von Thessalien, um in sich «Lust und Begierde» zu erregen und zu steigern, die frische Wurzel des Satyrion «mit Geißmilch zu trinken». Der bedeutende Kräuterarzt Tabernaemontanus, ebenfalls vielbelesen in den Büchern der Alten, versichert uns:
In der Antike sei dieses einzigartige Knabenkraut «wie eine andere Küchenwurzel zu der Speise gekocht worden». Man kann sich darum leicht vorstellen, daß durch solche regelmäßige Mahlzeiten der gesundheitliche Zustand der Hellenen anders war als in späteren Zivilisationen.
Das Satyrion selber oder auch Medikamente mit entsprechenden Zusätzen spielen ihre Rolle bei Blüte und Verfall des Römischen Weltreiches. Gerade auch Petronius, der im Zeitalter des Kaisers Nero schrieb, schildert öffentliche Gesellschaftsspiele der sich langweilenden Lateiner. Er erwähnt dabei: «Alle scheinen mir Satyrion getrunken zu haben.»
Sicher mag sich ein dauerndes künstliches Aufpeitschen mit starken Wirkstoffen bei ungesund lebenden, kränklichen Menschen verheerend genug auswirken. Die übertriebene Nutzung des Krauts in einem nur auf Lustgewinn ausgerichteten Zeitalter und die Verfolgung durch die Puritaner taten im übrigen das ihre: Die «gefährliche» Pflanze ist heute selten geworden und zu Recht geschützt.
Die Süchtigkeit der traurigen Spätzeit von Rom nach dem Wundermittel des Ziegenvolkes hat eigentlich nur wenig mit den ursprünglichen Volkskulturen des Mittelmeerraumes zu tun. Wahrscheinlich nahm man die Wurzel ursprünglich im wörtlichen Sinne «mit Ziegenmilch». Mit anderen Worten, man war überzeugt, daß das von den Tieren stammende Getränk schon im mütterlichen Euter eine echte Zaubermischung sei, das die menschliche Kräuterchemie kaum noch zu übertreffen vermöchte. Schließlich wurde auch der mächtige Blitzgott Zeus oder Jupiter, für die griechischen und italienischen Hirten der Herr aller Lebenskräfte, nach der Sage von den Nymphen mit Ziegenmilch aufgezogen.
Noch bis zum Beginn der europäischen Weltkriege im Jahr 1914 ließen viele Adelige und reiche Bürger ihre Kinder in den Alpen durch Ammen aufziehen. Wohlverstanden, von Frauen, die noch zu echten Hirtenfamilien gehörten und noch immer eine schöne Ziegenherde hielten. Dies sollte, wie man gern sagte, «manche Sünde gutmachen», wie sie der zivilisierte Lebensstil der Eltern erzeugte. Die große Beliebtheit von Satyren und Nymphen in der damaligen Kunst mag mit dieser Hochschätzung des Hirtenlebens zusammenhängen.
Die auf ihren Beruf stolzen Ammen verließen die Alpen auch nicht für gutzahlende Kunden. Sie waren fest davon überzeugt, daß sich nur in deren Umfeld die heilkräftige Milch entwickelte. Hier gab es schließlich gesundes Wasser, helle Lüfte, muntere Ziegen und die geheimnisvollen Kräuter. Aimee Dostojewski, die Tochter des großen Schriftstellers, bezeugt für das 19. Jahrhundert ebenfalls: «Die Mütter, die ihre Kinder von Ammen aufziehen lassen wollen, sind gezwungen, sie in die Berge zu schicken.»
Beim Stillen der Kinder oder der Pflege von trübsinnigen und darum kränklichen Erwachsenen spielte die Milch von frei in den Tälern herumtollenden Ziegen eine sehr bedeutende Rolle. So wirkte die Kultur aus den Tagen der Nymphen und Satyren fast bis in die Gegenwart nach. Wer an deren zeitlose Weisheit glaubte, dem schenkte sie noch immer Glück und Gesundheit.
Gesundheit in den Geißenflühen
«Geißberge», «Geißenberge» - und Spuk geheimnisvoller Kräfte, das waren im Alpenraum Worte und Begriffe, die zusammengehörten: Dort wo die Geißen am liebsten sind, gingen ängstliche Leute oft gar nicht erst hin!
Die einfachste Erklärung für solchen Volksglauben liegt auf der Hand. Die aus der vorgeschichtlichen Kultur stammenden Vorstellungen wurden von der Zivilisation schrittweise zurückgedrängt. Die Geschöpfe oder Geister, die wie Geißen aussahen, wurden immer mehr dem Teufel gleichgesetzt: Dieser besitzt auf alten Bildern sehr häufig die Gestalt von Ziegen und Böcken...
Der Bergbauer, Ziegenbesitzer und eigenwillige Naturforscher Gadon Krebs, der in seiner wilden Schlucht an den Grenzen der Gemeinden Unterseen und Habkern hauste, hat es uns anders erklärt: Das Urgestein der Alpen war für ihn der Behälter der endlosen Lebenskraft der Schöpfung. Die Pflanzen, die auf der dünnen Erdschicht auf Felsen sprossen, waren darum für ihn voller Energie. Er hatte eine Mühle entwickelt, die das Urgestein zermalmte. Daraus ist ein ausgezeichnetes Düngemittel im Garten geworden, da es für Kraut und Gemüse entscheidend wichtige Grundstoffe enthält.
Um Beweise war der unabhängige und phantasievolle Forscher nie verlegen. Er führte mich zu Felsspalten, aus deren Ritzen trotz karger Erde starke Bäumchen hervorwuchsen. Er versicherte mir auch, daß seine Ziegen am liebsten auf Bergweiden grasten, aus deren dünner Pflanzenschicht der Urstein hervorragte. Gerade solche Tiere sollen aber besonders viel Kraft zu Spiel und sinnlichem Treiben und auch ausgezeichnete Milch aufweisen.
In den Wörterbüchern der oberdeutsch-alpenländischen Mundart findet man tatsächlich noch den alten Ausdruck «Geißberg-Stein». Adelung hat ihn so beschrieben: «Eine graue, weißliche, oft auch bläuliche Steinart.» Sie werde «in der Schweiz auf den höchsten Gipfeln der Alpen sowohl als in den Ebenen angetroffen». Genau in den Klüften, die in diesem Reich der Geißberg-Steine entstanden sind, finde sich der «sechseckige Kristall».
Auch Franz Josef Stalder übersetzt das Wort einfach mit unserem Granit. Er vermutet, daß der Name Geißberg-Stein aus der Naturbeobachtung der Älpler entstand, «weil diese Steinart auf den höchsten Felswänden zu finden ist, wo Gemsen und Steinböcke ihren Aufenthalt haben». Er ergänzt diese Erklärung mit dem entscheidend wichtigen Hinweis: Gemsen und Steinböcke habe man einst im Gebirgsraum, zusammen mit ihren zahmen Verwandten, unter dem Sammelnamen «Geißen» gekannt.
Die wilde Granitwelt der Alpen war nun einmal ein Erdteil der endlosen Kletterei. Die Ziegen waren für ihre Laune bekannt, sich oft zu versteigen. Sie wählten gefährliche «Geißewägli», also Pfade, die eigentlich nur für ihre Muskeln und Hufe gemacht schienen. Man erzählt, daß sie dann oft die Hirten zu necken verstanden.
Um ihre übermütigen Tiere zu retten, wagten diese Bergmenschen geradezu lebensgefährliche Klettereien. Sich Schritt für Schritt vorwärtstastend, nahten sie sich mühsam dem «Opfer» der eigenen Verspiel theit. Doch genau in diesem Augenblick zeigte das Tier, daß seine Kräfte und Künste noch lange nicht erschöpft waren! Mit einem Sprung war es auf einem sicheren Vorsprung - während sein «Retter» sich noch lange überlegen mußte, wie er selber aus seiner peinlichen Notlage herauskam.
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