Man brachte sie oft mit den Waldkobolden des slawischen und rumänischen Volksglaubens zusammen. Gelegentlich versuchten die so gern jagenden Edelleute des Ostens, diese Sippen als Helfer zu beschäftigen: Doch diese sollen sich meist gewehrt haben, den Herren bei der Hetze auf Tiere zu helfen; sie fühlten sich diesen mehr verbunden als den Menschen in den Dörfern.
Das ursprüngliche Volk von der Huzulei bis Rumänien neigte nicht immer zum dem Vorurteil, in diesen Außenseitern eine Art menschenähnlicher Affen zu sehen. Sie staunten über die Erfahrung und das sichere Gefühl der letzten europäischen Wilden, auch im Winterwald ihr Auskommen zu finden. Man behauptet, daß es diesen «schwarzen Langhaarigen» möglich war, Wurzeln, Rinden und Pilze zu erspüren, die ihren Muskeln eine einzigartige Kraft schenkten. Zogen sie sich auch vor den zivilisierten Menschen fast immer in ihre Waldverstecke zurück, so waren sie doch für ihre Gastlichkeit in Notfällen berühmt.
Wie wir wissen, waren gerade die osteuropäischen Rückzugsgebiete dieser halben Märchengeschöpfe sehr häufig von Kriegswirren und Umwälzungen erfüllt. Zu allen Zeiten sei es vorgekommen, daß Flüchtlinge bei den «Wilden» Zuflucht suchten. Obwohl diese die Erfindung des Feuers nicht häufig nutzten (was gerade Stempowski als «wahrscheinlich übertrieben» ansah!), waren sie gelegentlich gute Gastgeber: Wer bei ihnen in den Wäldern Zuflucht fand, «der war für seine Verfolger wie vom Erdboden verschwunden». Er kam erst wieder hervor, wenn die Luft rein war. Unterdessen konnte er die uralte Kunst erlernen, in der Natur zu überleben. Dadurch war er seinen Feinden haushoch überlegen.
Ähnliches erzählen die Alpenbewohner, z.B. die Graubündner, von ihren «Wilden Leuten», «Fänggen» oder «Salvans»: «Ein altes handschriftliches Kräuterbuch im Prättigau zählt u. a. die Pflanzen auf, die den Fänggen, auch den Hexen, zu eigen gewesen, und deren Gebrauch nur ihnen bekannt war. Es gibt viele Wege und Mittel an, die diese Geheimnisse enthüllen.»
Noch heute gilt in unserem Alpenraum die Kunst des Überlebens mit Wildfrüchten und Wildgemüse als beneidenswerte «Zigeunerweisheit». Man vermutet, die Wanderstämme hätten sie von den rätselhaften Urbewohnern erlernt, «die noch keine richtigen Häuser besaßen».
Trotz des Mangels an Werkzeugen gelten den Berghirten die Wilden Leute der Alpen und Karpaten so wenig den «gewöhnlichen Menschen» unterlegen, wie die Yetis den Nepalesen und Tibetanern: Unsereiner kann stolz sein, wenn er auch nur eine Ahnung ihres Naturwissens besitzt.
Der Schnee-Affe wird modern
Die «übermenschlichen» Affenmenschen oder Menschenaffen der abgelegenen Landstriche standen zweifellos in den zwanziger und dreißiger Jahren an der Wiege der modernen Massenliteratur, all der Fantasy-, Science-Fiction- und HorrorGeschichten, die jetzt Filme und Taschenbücher füllen.
H. P. Lovecraft (1890-1937) war bekanntlich einer der großen Meister und Anreger auf all diesen Gebieten. In einer seiner berühmten Geschichten, The Whisperer in the Darkness, geht er ausdrücklich auf die Yeti-Völker ein. Der Schriftsteller mischt ganz offensichtlich die Bilder seiner Vorstellungskraft mit dem Ergebnis seines tiefschürfenden Bücherstudiums. Er spielt hier mit einer Idee, die mehr oder weniger die wichtigste Grundlage seines ausgedehnten Werks wurde: Amerikanische Sagen aus dem Staat Vermont weichen nach ihm «nur geringfügig von den auf der ganzen Welt verbreiteten Erzählungen ab, in denen im Alterum von Faunen, Dryaden und Satyrn die Rede war.»
Sie decken sich nach ihm ziemlich genau mit dem im modernen Griechenland fortwirkenden Volksglauben. Groß sei die Übereinstimmung mit den Geschichten, die noch immer über rätselhafte Höhlenwesen in Wiles und Irland umgehen. Wichtig waren für Lovecraft vor allem: «Die sehr ähnlich lautenden Erzählungen der nepalesischen Bergvölker, die von dem schrecklichen Yeti oder Schneemenschen handeln, der angeblich inmitten der eisigen Felswüsten des Himalaya haust.»
In seiner Dichtung zeigen sich die Helden Lovecrafts mehr oder weniger überzeugt, daß die Übereinstimmung solcher Berichte kaum zufällig ist. «Die alten Sagen müßten doch einen wahren Kern enthalten». Damit sei die Existenz einer seltsamen Ur-Rasse wahrscheinlich, die durch das Vordringen des Menschen in unterirdische Verstecke getrieben worden sei.
Bei diesem Dichter findet sich bereits eine Idee, die heute eine Reihe von begeisterten Anhängern findet: Der Yeti sei nicht etwa ein riesenhafter Halb-Menschenaffe, der durch eine Verkettung von Zufällen in abgelegenen Teilen der Erde überleben konnte. Möglicherweise müsse man in ihm sogar einen Gast von anderen Gestirnen erkennen. In Wirklichkeit könnte er unsereinem überlegen sein. Der Schneemensch besitze unvorstellbare geistige Gaben, so daß er mit seinen schwerfälligen Beobachtern eigentlich nur spiele. Es gebe für sein Bestehen keinen einwandfreien Beweis, weil er es gar nicht wünsche.
Ein Mitforscher von Lovecraft, zumindest was urtümliche Sagen angeht, war sein jüngerer Zeitgenosse, der Schriftsteller Robert E. Howard (1906-1936). Es gibt kaum viele der geheimnisvollen Tiermenschen-Rassen, die nicht gelegentlich in seinen Abenteuerromanen auftauchen: Harpyen, Satyre, Geschöpfe mit Fledermausflügeln. Wie man weiß, hat gerade er die griechischen und die ihnen verwandten Dichtungen fleißig nach solchen Angaben durchforscht.
Selbstverständlich haben Howards Helden auch gelegentlich einen malerischen Zweikampf mit «Riesenaffen» zu bestehen. Hier nur aus der Dichtung Shadows in the Moonlight die Schilderung eines solchen Wesens: «Den Körper bedeckte ein zottiger Pelz, mit Silber durchsetzt, das im Mondschein leuchtete. Die Klauen hingen fast bis zur Erde herab.»
Howard hat nach seinen eigenen Angaben nicht nur aus Sagen geschöpft. Wichtig waren für sein Schaffen auch seine erstaunlich farbigen Träume, die ihn Nacht um Nacht erfüllten. Er war überzeugt, daß unser Unterbewußtsein mit Erinnerungen an Zeitalter und deren Wesen erfüllt ist, von denen kaum noch schriftliche Zeugnisse erzählen.
Hier finden wir wiederum Gedankengänge, wie sie unter den Heilern und Hexen des Alpenraums ganz ähnlich fortlebten. Ein alter Naturarzt von Gwatt am Thunersee berichtete uns 1966 ebenfalls von völlig behaarten Riesen, die er in seiner Jugend in einer Mondnacht sah. Ihr Anblick sei so lebendig gewesen, daß er zuerst glaubte, dies seien «echte» Geschöpfe: Später habe sich sein Eindruck stark verwischt. Er dachte, es handle sich hier um einen echten Spuk, «wie er in den Sagen des Oberlandes reichlich vorkommt».
Später nahm er an, daß es Stimmungen gibt, in denen dazu veranlagte Menschen «durch die Zeit schauen können». Wesen, wie es sie vor Hunderttausenden oder Millionen Jahren gab, entsteigen dann unserem Gedächtnis. Schließlich hätten unsere eigenen fernen Ahnen, in welcher Gestalt auch immer, die Urzeit unserer Welt erlebt. Alles was in ihnen einen tiefen Eindruck hinterließ, wirkt in vielen Geschlechtern nach. Es sei darum leicht möglich, daß die Bilder von einst sogar in Zuständen des Wachtraums vor uns auferstehen - als wären sie noch immer ein Bestandteil der Wirklichkeit.
Der irisch-texanische Dichter Howard hat wahrscheinlich ganz entsprechend gedacht. Dauernd spielt er mit der Möglichkeit solcher Begebenheiten, die in unserem Geist auftauchen können. So läßt er etwa seinen Romanhelden Salomon Kane durch den magischen Klang afrikanischer Trommeln in entsprechenden Urbildern versinken. Die Erinnerungen, die Ahnungen beginnen ob des Zauberklangs in seinem Bewußtsein zu flüstern. Auf einmal scheint es ihm, als befinde er sich in den Nebeltagen der Urzeit, «als Tier und Tiermensch um die Herrschaft kämpften».
Читать дальше