Der Herzog von Zähringen erschien, wohl vom Heulen und Knurren angelockt, auf cfem Kampfplatz. Er entdeckte neben der toten Bärenmutter ihre beiden Jungen. Er nahm sie in seine Burg mit und zog sie mit Sorgfalt auf. Den Sieg der Bärin im Wald betrachtete er als ein gutes Vorzeichen. Hier erbaute er die Stadt, die schon bald im westlichen Alpenraum eine politische und kriegerische Schlüsselstellung innehatte. Ihr Rathaus kam genau an den Platz der alten Bärenhöhle zu stehen.
Schon unter diesem Bewunderer der Bärentugenden seien, zum Gedenken der Tat, die nach Honig schmeckenden Backwerke entstanden. Schließlich ist gerade das tierische und menschliche Bärenvolk Liebhaber alles Süßen. Die festlichen Lebkuchen zeigen aus diesem Grund noch immer das Bild der mütterlichen Bärin mit ihren Jungen. Diese Tradition wurde immerhin vor fast 200 Jahren aufgeschrieben!
Die Schöne und ihr (liebevolles) Biest
Wenn der Bärenfürst im Märchenroman von Musäus Tiergestalt annimmt, verwandelt sich seine ganze Umgebung. Hier haben wir einen tiefen Grundgedanken unserer Sagen: Jede Landschaft kann paradiesisch oder abstoßend, erschreckend sein. Es kommt nur auf unsere innere Einstellung an.
Wird er aus dem mächtigen Tier der mittelalterlichen Wälder wieder zum schönen Prinzen, vollzieht sich die wundersame Verwandlung. Ein schroffer Felsen wird zu einem prächtigen Schloß. Die wilde Einöde im Umkreis ist nun ein reizender Park. Die trüben Sümpfe wandeln sich in schmucke Teiche mit kunstvollen Springbrunnen und kristallklarem Wasser.
Ähnlich geht es dem Volk dieser Feenwelt. Die Dachse und Marder des Urwalds werden nun zu den Rittern und Knappen des Bärenfürsten. Eulen und Fledermäuse sind schmucke Zofen. Dem menschlichen Zeugen dieses Zaubers der Verwandlungen wird es fast unmöglich herauszufinden: War der Glanz des königlichen Schlosses die Wirklichkeit und das Sumpfland der Tiere und Nachtvögel nur ein Traum? Oder ist es umgekehrt? Schläft er tief in der Wildnis und hat nur ein täuschendes Gesicht der Nacht, das ihm die ganze Pracht vorführt?
Auch hier schöpfte Musäus ganz sicher aus den Überlieferungen der volkstümlichen Märchenerzähler. Die Sagen der europäischen Gebirge, der Pyrenäen, Alpen, Karpaten kennen alle die mögliche Wandlung von Raum, Gestalt und Zeit, wie ich es selber noch mündlich vernahm: Hoch über dem Thunersee befindet sich die Alp Seefeld. Sie ist recht rauh, und nur kurze Zeit wird sie jährlich von den Kuhhirten genutzt. In bestimmten Mondnächten kommt hier aber das «Hexenvolk» aus dem Oberland und dem Emmental zusammen. Sie schauen dann eine «gleich einem Diamanten glänzende» Königsstadt, in deren Sälen sie unvorstellbare Feste feiern.
Im grünen Land, den «ewigen Jagdgründen» unserer Märchenromane, läuft eben die Zeit nach anderen Gesetzen als in der leicht vergänglichen Menschenwelt. Wenn dieser Zug von den Erzählern besonders betont wird, ist die Tiergestalt der Helden weder eine Strafe noch ein böser Zauber. Die «Verwandlungen», die Hingabe an die Naturkräfte sind dann in den Geschichten dieser Art ein Heilmittel: Dadurch vollzieht sich der Gewinn der Lebenskraft und die dauernde Verjüngung.
Die Zeit der Aufklärung, das 18. Jahrhundert, war durchzogen von einer Märchenwelt «für Erwachsene und Hochgebildete». Künstler, Gelehrte und Königskinder lauschten den Berichten über die Grafen Gabalis, St. Germain und Cagliostro. Diese sollen bekanntlich das Geheimnis der Veränderung des menschlichen Daseins gefunden haben. Wie unter anderen der romantische Dichter Achim von Arnim andeutet, war die phantastische Kunst seiner Zeit vor allem eine Art Erinnerung: Man träumte wundersame Geschichten, wie sie das vorangegangene Jahrhundert in der Wirklichkeit erlebt haben wollte.
Im «Zauberwald» herrscht auch bei Musäus das Gesetz der ewigen Wandlung, die, wie fast immer in unseren Tiersagen, irgendwie mit den Mondwechseln zusammenhängt. In der Geschichte von der Braut des Bärenprinzen dauert die gesamte «Metamorphose» einen Viertel des ganzen Mondmonats: Sechs Tage ist der Geliebte das mächtige Waldtier und einen Tag ein in jeder Beziehung wunderbarer Mann.
Zuerst findet das Mädchen, das den Bären ehelicht, solche Zustände entsetzlich. Doch nach und nach wird ihr bewußt, daß sie wahrscheinlich das große Los gezogen habe: «Sie bedachte, daß eine Ehe noch gut genug wäre, wo der siebente Tag immer heiter sei... Sie fand sich in ihr Schicksal, vergalt Liebe mit Liebe, und machte ihren Albert (also den Tierfürsten) zum glücklichsten Bären unter der Sonne.»
Musäus verweist ebenfalls auf die christliche und islamische Legende über die Heiligen Siebenschläfer, die in einer Höhle mehr als ein Jahrhundert verschlafen. Als sie erwachten und ans Tageslicht herauskamen, waren sie «nur um eine einzige Nacht gealtert». So lebt die Prinzessin des Märchens zur Zeit, in der die Geschichte handelt, bereits 21 Jahre in der Bärenwelt. Die Zeit, in der ihr Gatte das Waldtier ist, verbringt sie offensichtlich in einer Art Halbschlaf. Nur wenn ihr Gefährte ein schöner Prinz wird, leben beide bewußt ihren unerschöpflichen Leidenschaften. Also altert auch die Frau nur in dieser Zeit, das heißt in 21 Jahren nur um deren drei!
Dieses Leben ausschließlich am Tag der gegenseitigen Freude hat verständlicherweise viele Vorteile: «Auch war die wechselseitige Liebe des edlen Paares noch Gefühl des ersten mächtigen Instinkts.» Ein solches Fortdauern und die Entwicklung der Zuneigung und Leidenschaft erschien gerade Musäus und seinen Lesern als beneidenswert vorbildlich: Nur die «glücklichsten der Ehen» könnten sich nach dem beliebten Dichter der entsprechenden Vorzüge oder Vorrechte rühmen!
Ich glaube, in diesem im 18. Jahrhundert aufgeschriebenen Märchen über die Liebeslust im Bärenreich hat sich eine uralte Menschheitserinnerung erhalten. Der Jäger und Schriftsteller Eugen Wyler erzählte mir, was ihm ein «Wilderer» aus dem Vorarlbergischen verriet: Das Lieben zwischen Mann und Frau war in der «fernsten Urzeit» so stark und treu, weil sie in verschiedenen Lebenskreisen wirkten.
Man erzählt noch heute ähnliches von den leidenschaftlichen «wilden» Alpenjägern, wie es sie bis in unser Jahrhundert von Savoyen bis Slowenien so viele gab. Die Frau war den Großteil der Woche bei ihren Ziegen und im Kräuter- und Gemüsegarten. Der Mann dagegen «wohnte» bei den wilden Tieren im Bergwald.
Eifersucht war eigentlich bei beiden unnötig. Sie wußten felsenfest, daß sie sich beide auf die nächste Begegnung freuten. Es war dann jedesmal zwischen ihnen «wie das erste Mal»: Ihre Verliebtheit hielt über Jahrzehnte.
Die menschlichen «Bärenvölker» haben erstaunlich ähnliche Sagen. Sie sind stolz, mit ihrem Tier verwandt zu sein und bringen dies bis heute in ihrer Volksdichtung zum Ausdruck.
Als ich die Stadt Jaroslawl im Nordosten des europäischen Rußland besuchte, sah ich deren Wappen - es erinnerte mich erstaunlich an dasjenige von «Bern in Burgunden». Es zeigt einen aufrecht stehenden Bären, der in seinen Pranken ein mächtiges Beil schwingt.
Die Erklärungen, die ich von den Einheimischen erhielt, lautete entsprechend: Auch dies sei eine mittelalterliche Gründungsgeschichte. Ein in den dortigen Sümpfen und Wäldern ansässiger Stamm der «Finnen» habe seit «Beginn unserer Welt» den Bärengott verehrt. Eine Art Priesterkönig habe sie geführt, der sich an feierlichen Tagen und auch in Kämpfen «in Bärenfelle kleidete».
Der Mann war unglaublich stark und schnell und also offensichtlich ein Berserker! Als sich die russischen Siedlungsgebiete vom südlichen Kiew und der Stadt Nowgorod ausdehnten, sei der Fürst Jaroslaw hier mit seinen Kriegern erschienen. Die nordgermanischen Waräger oder Wikinger, zu denen dieser Herrscher gehörte, standen nun den Waldmenschen des Nordens gegenüber. Nach altem Brauch beschloß man, das Blutvergießen zu vermeiden oder einzuschränken. Nur die beiden Fürsten sollten miteinander um die Macht kämpfen.
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