Die russische Überlieferung macht aus diesem Zusammenstoß fast eine Schicksalsstunde. Germanen und slawische Rus sen gegen die Finnen. Die sich damals gerade ausdehnende europäische Zivilisation gegen «asiatische» Stämme, die aus den Räumen der Gebirge Ural und Altai stammten. Christentum wider Heidentum. Zivilisation gegen die Urkultur aus der Eis zeit, die hier weiterdauerte.
Der Fürst Jaroslaw kannte aber die Kampfkünste und fällte den als unbesiegbar geltenden Bärenmann. Christliche Kirchen erwuchsen nun am Ort, wo man bisher nur nach «heidnischer Bärenart» die Waldgeister und den Donnergott ehrte. Die Stämme der Finnen unterwarfen sich - ein wenig getröstet, daß das Bild ihres Häuptlings und Tiermagiers in das Stadtwappen kam. Nur ein Teil wanderte in Gegenden aus, in denen ihr Stamm noch immer in heiligen Höhlen ungestört über die Geheimnisse ihrer Umwelt nachsinnen konnte...
Der Mystiker und Kunstmaler Nikolai Roerich (18741947) glaubte in der zäh fortdauernden Bärenverehrung des finnisch-russischen und sibirischen Raumes den Schlüssel einer Urkultur zu enträtseln. In seinem Meistergemälde Die Vorväter des Menschen (1911) versetzt er uns in die ferne Vergangenheit: Die Gletscher der Eiszeit haben sich zurückgezogen. Eine weite jungfräuliche Naturlandschaft mit Flüssen und Wäldern dehnt sich jetzt in endlose Fernen.
Ein junger Gott spielt auf einer Anhöhe seine Flöte. Es scheint der von Roerich besonders geschätzte Bringer des Frühlings, der schöne Herr Lei zu sein. Mit Recht hat man ihn mit dem griechischen Orpheus oder dem indischen Krishna verglichen. Auch diese beiden, Helden und Dichter in einem, machten schließlich ihre Wundermusik für die ganze Natur und namentlich ihre lieben Freunde, die Tiere der Wildnis.
Ein Kreis von dunklen Waldbären hört auf Roerichs Gemälde dem guten Magier wie verzaubert zu. Hier erkennen wir die Sage, nach der sich gerade die Urbevölkerung der nordslawischen und finnischen Räume aus diesem vielbewunderten Tier entwickelte.
Roerich hat zusammen mit dem Musiker Igor Strawinsky die Ideen des Balletts Das Frühlingsopfer erschaffen. Um die glückliche Wiederkehr der fruchtbaren Jahreszeit zu feiern, tanzt in diesem Musikwerk ein Mädchen in maßloser Raserei. Um sie herum stehen die Krieger und Weisen des Stammes in Bärenfellen. Auch dies soll uns an den slawischen Urglauben von der Herkunft vom mächtigsten Waldtier erinnern.
Gerade der Forscher Roerich verwies auf ein mongolisches Märchen, nach dem zwei Brüder der fernen Ahnenzeiten durch eine Katastrophe getrennt wurden. Die Nachkommen des einen wären zu den Stammeltern der eurasischen Stämme des Nordens, die ändern zu denen der nordamerikanischen Indianer geworden.
Auf beiden Seiten der Meerenge zwischen Sibirien und Alaska erkennen wir auf alle Fälle die Hochschätzung des Bären als göttlichen Ahnen. Dazwischen finden wir, nach beiden Seiten verwandt, die Sagenwelt der Ainus auf den japanischen Inseln; offenbar ging einst im Reich der Bärenmenschen die Sonne niemals unter.
Die Verbundenheit dieser Völker mit der harten Natur ihrer Heimatländer ist bis heute sprichtwörtlich. Berühmt war dazu ihre Körperkraft, die sie aus ihrem tiefen Schlaf herausholen konnten. Der größte Sagenheld in Osteuropa ist der riesenhafte Ilja von Murom. Die Lieder um seine Gestalt leben bis in unser Jahrhundert unter den Fischern und Jägern um die großen Seen des russischen Nordens, die im Osten von Finnland liegen. Er ist ein gutmütiger Einzelgänger, doch gerät er in flammenden Zorn, so kann er mit seinen bloßen Pranken die feindlichen Tatarenhorden gleich reihenweise niederstrecken.
Er vermag Baumstämme wie Strohhalme auszureißen. Ganze Armeen fliehen, wenn sie seine entfesselte Stärke gewahren. Übrigens: Seine Lieblingsspeise ist süßer «Honig-Trank», dessen Genuß seine «Heldenkraft» (sila bogatyrskaja) jedesmal erneuert und steigert.
Er entstammt einem einsamen Hof, der «in der Mitte der dunklen Wälder» lag, im eigentlichen Gebiet des geheimnisvollen Volks der Muromer. Von ihnen hat er seinen «tiefen Schlaf» erlernt. Dreiunddreißig Jahre habe er auf dem warmen Ofen geruht, und dadurch sei in ihm eine übermenschliche Riesenkraft erwachsen. Die Fischer und Jäger des hohen Nordens von Rußland und Sibirien, schamlos ausgebeutet von Moskaus Bürokraten, hoffen auch im 20. Jahrhundert auf seine Wiederkehr.
«Er ist nie gestorben», flüstert man am Onega- oder Ladogasee während der Winterstürme, «er schläft nur, doch seine Kraft nimmt in jedem Winter zu. Bald wird er erwachen und wieder einen Honigtrunk zu sich nehmen.» Man hofft noch immer: «Dann wird er sich zu seiner Heldengröße aufrichten und mit Bärenkraft alles Gesindel, das seine Wälder entweihte, wegfegen.»
Die Hunde des Mondes: Werwölfe
Kinder der längsten Nächte
Die Weltschau der Griechen kannte schon sehr gut die Menschen, «die sich in Wölfe verwandeln». Als ihre eigentliche Heimat galt der hohe Norden. Herodot erzählt vom Volk der Neuroi, das in den Ländern jenseits des Schwarzen Meers und in den Ländern der skythischen Nomaden haust: Einige Tage im Jahr würden sie zu wilden Wölfen.
Über die «Hellenen, die in Sykthnien wohnen», wurden solche Bräuche auch in Griechenland besser bekannt. Wie die slawischen Mythologen des 19. Jahrhunderts, etwa J. J. Hanush oder Konrad Schwenck, zeigten, durchdrang die ser Wolfsglaube gewisse nordslawische Völker. Noch in der Renaissance galt das Treiben der Wolfsleute als eine mehr oder weniger wohlbezeugte naturwissenschaftliche Tatsache. Sie sollten vor allem in den Gebieten mächtig sein, in denen um die Weihnachtszeit und Neujahr die Sonne gar nicht aufgeht. Die lange Nacht galt als ihr jährlicher Festtag.

Die Berichte über Hunde und Wolfsmenschen stammen den Zigeunererzählungen nach aus dem alten Ägypten.
Hanush bezeugt uns noch 1859: «In der russischen und rusinischen Weihnachtsfeier spielen Vermummungen in Wölfe durch umgehängte Wolfspelze und ein Herumrennen in denselben in den Gassen eine Hauptrolle...» Besonders wichtig bleibt vor allem der Bericht des hochgebildeten Schweden Olaus Magnus, der 1555 seine berühmte Historia de gentibus septentrionalibus herausgab: Auch er vergleicht die Zeugnisse seiner Zeit mit denen der Antike, von Euanthes, Agriopas und des sehr kritischen Plinius.
Noch heute, versicherte er uns im 16. Jahrhundert, kommen die Werwölfe in großer Zahl vor, «zumal in den nach Norden zu liegenden Ländern». Er erzählt uns dann ausführlich von den Zuständen in Preußen, Livland und Litauen: «Schließlich wird fest behauptet, daß unter jener Schar auch Große dieses Landes und Männer aus dem höchsten Adel sich befinden.»
Ganz bestimmte Plätze in den baltischen Ländern scheinen für den Geheimbund der Werwölfe wichtig gewesen zu sein. Ausführlich schildert uns der schwedische Historiker: «Zwischen Litauen, Samogitien und Kurland ist eine Mauer, der Rest einer verfallenen Burg. Dort kommen zu einer bestimmten Zeit des Jahres einige Tausend (!) von ihnen (den Werwölfen) zusammen, und sie prüfen die Geschicklichkeit eines jeden von ihnen im Springen. Wer jene Mauer nicht überspringen kann, wie es den dickeren meist geschieht, der wird von ihren Vorstehern mit Geiseln gepeitscht.»
Offenbar waren die Menschenwölfe überzeugt, daß sie nur schlanke und schnelle Mitglieder in ihrem Volk haben sollten. Im Russischen pflegte man einst zu sagen - wie ich es noch als Kind hören durfte -: «Wenn du den Hunger nicht kennst und fett wirst, kannst du niemals in ein Wolfsfell schlüpfen.» Das sagte man im bestimmten Sinne: Ein Mensch, der schon in jungen Jahren alles im Überfluß besitzt, wird faul und träge. Niemals könnte er später eine außergewöhnliche Leistung vollbringen.
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