Auch sollte er nun einen Monat lang die Spuren der Beute herausspüren können, als sei er tatsächlich vom Wolfsvolk in dessen Familie aufgenommen worden. Wie schon der Mann bei Petronius konnte er durch ein verrufenes Waldgebiet in der Nacht wandern, als wäre um ihn hellichter Tag. Die bange Furcht vor der Dunkelheit, die in den Herzen der meisten Menschen wohnt, war nun sein Verbündeter. Diese allgemeine Angst erlaubte ihm, was mir ein Jäger aus dem Neuenburger Jura als sein hohes Glück bezeichnete. Er konnte sich als starkes Geschöpf der Nacht empfinden und deren zahllose Geräusche und Gerüche wahrnehmen und genießen: In Augenblicken war er fähig, deren verborgenen Sinn zu entschlüsseln.
Wie man aus seiner Haut «fährt»
Rußland blieb, zusammen mit dem Baltikum, wohl bis heute ein Herd des Werwolfglaubens. Die Auseinandersetzung mit den griechisch-orthodoxen Priestern fand kaum statt. Die malerischen Kirchen waren Inseln der Festfreude, um die in heiligen Zeiten das Volk zusammenströmte. Dazwischen dehnten sich kaum wirklich erforschte Sümpfe und dunkle Wälder aus.
Ganze Stämme, vor dem Schulzwang nur oberflächlich «russifiziert», hausten an der Grenze zur Wildnis. In ihren Hütten redete man angeblich noch immer besondere Mundarten aus den Gebieten von Ural und Altai. Neben den goldglänzenden Ikonen der christlichen Heiligen verbargen sich in den Nischen der Balken die Ahnengötter: Sie bewachten noch immer die ewigen Gesetze von Jagd, Fischerei und Bienenzucht. In großen Teilen des Landes galten noch immer die Tierkobolde als gute Nachbarn und Lehrer der Lebenskunst auf der eisigen Erde.
Als nach 1700 Kaiser Peter Rußland zu einem «fortschrittlichen europäischen Staat» erklärte, schämte man sich allgemein des asiatischen Erbes. Druckereien für Schulbücher und modische Unterhaltung sprossen zwar jetzt wie Pilze aus dem Boden, aber es galt als Schmach, über den echten, noch immer lebendigen Volksglauben in den eigenen Provinzen zu schreiben.
Der ukrainische Edelmann Orest M. Semow (1793-1833) war aber stolz, die verfemten Werwölfe in die Dichtung einführen zu dürfen. Seine für Land und Volk kulturgeschichtlich wichtige Tat geschah im romantischen Jahrbuch Schneeglöckchen (Podsneschnik), das im Jahr 1829 in St. Petersburg erschien. Der Verfasser versichert uns, daß er dem überlieferten Volksmärchen folgt. Das ist sicher untertrieben. Er erzählt so lebensecht, daß niemand zweifeln kann: Der Schriftsteller kannte genug Zeitgenossen, die noch immer vom Dasein der «Verwandter» (oborotni) unter Menschen und Tieren fest überzeugt waren.
Der «Werwolf» ist hier ein Kräuterarzt und Heiler, ein rüstiger Alter, der mit seinem Ziehsohn in einer Waldhütte haust. Wie die Tiere wäscht er sich regelmäßig mit Tau. Obwohl er hie und da Schafe oder Ziegen tötet, nützt er der Allgemeinheit. Er kennt eben die Kräfte der Natur wie kaum ein anderer. Seine Verwandlung in den Werwolf schildert Somow kaum viel anders als fast zwei Jahrtausende vor ihm Petronius: Der Waldzauberer beschwört dazu den leuchtenden Mond mit den «goldenen Hörnern».
Im übrigen ist das Volk zum alten Mann sehr höflich. Er wird auch für seine Dienste gegenüber den Dörflern gut entschädigt und ist beneidenswert wohlhabend. Sein Sohn, der sich ebenfalls ein wenig «verwandeln» kann, gilt als recht schlichtes und liebenswürdiges Gemüt: Ein Mädchen ist in jeder Beziehung glücklich, ihn zum Gatten zu bekommen.
Im Gegensatz zu den modernen englisch-amerikanischen Gruselgeschichten um Werwölfe ist hier nichts Böses zu erkennen. Der Werwolf ist für Bauern eigentlich nicht ungewöhnlicher als die «normalen» Wölfe. Der Schaden, den er anrichtet, ist kaum schlimmer als derjenige, den man auch sonst mit dem Kleinvieh hat. Man ist nun einmal den Umgang mit solchen Geschöpfen gewöhnt: Das Leben auf dem Lande ist trotzdem recht gemütlich.
Der Dichter und Volkskundler beendet seine «wahre» Geschichte mit der nach ihm einzig möglichen Nutzanwendung: «Derjenige, dem keine wölfische Art angeboren ist, soll sich niemals als Wolf verkleiden.» Die Sagen und Bräuche um die Werwölfe können demnach also nur in einem Wolfslande voll verstanden und gewürdigt werden.
Von meiner Großmutter hörte ich eine einleuchtende Erklärung: In den endlosen Weiten des europäischen und asiatischen Nordens herrscht die «allmächtige Kaiserin Winter (Zima-Zaritza)». Der Wolf, der sich in der Kälte um die kürzesten Tage des Jahres sogar paart, gilt als das vielbewunderte Vorbild des Überlebens.
Während die meisten Menschen in den verschneiten Dörfern des finnisch-russischen Nordens um diese Zeit häufig hungern, fasten viele noch zusätzlich vor der «heiligen Zeit der Geburt Christi». Doch es gibt hier die Wolfsleute, die die «Heiligen Nächte, wenn das neue Jahr kommt», fast nach Art ihrer Lieblingstiere verbringen: Der Höhepunkt ihrer Feste ist das nächtliche Auffressen von noch völlig rohem Schaffleisch.
Da sie alle vom genügsamen Dasein in Herbst und Winter eher geschwächt sind, wirkt dann das blutige Mahl auf sie geradezu wie ein Zauber. In ihren anschließenden Traumgesichten fühlen sie sich als «echte» Wölfe und heulen mit ihren tierischen Freunden um die Wette.
Da ich als Kind von Tierliebe geradezu zerfloß, weinte ich aus Mitleid mit den Schafen. Die Großmutter tröstete mich mit rührenden Worten: «Durch ihre wilden Mondnächte haben die Verwandlungs-Menschen (ljudi-oborotni) keine Grausamkeit mehr in sich, sie haben sie völlig ausgelebt. Sie gelten, obwohl sie meistens übermenschlich stark sind, als gutmütig und lieb gegenüber ihren Nachbarn und allen Geschöpfen. Einige von ihnen haben von ihrer Raserei während der Waldweihnachten gründlich genug! Im übrigen Jahr meiden sie sogar meist das Fleisch. Sie wenden sich ab, wenn sie Blut strömen sehen.»
Ein Werwolf könnte gegenüber Menschen nur grausam werden, wenn es ihm unmöglich wäre, seine «wilde Seele» auszuleben: «Ohne das Raubtier des Nordens, das er in sich weckt, hätten viele Menschen gar nicht die Lebenskraft gehabt, in dem Schneereich durchzuhalten.» So erscheint ihnen aber ihre harte Umwelt, die sie mit «Wolfs-Sinnen» wahrnehmen können, als «ein silberglänzendes Paradies».
Wenn ein Mitmensch verbittert, zornig, von allen denkbaren Seiten bedrängt ist, sagt er noch immer: «Es ist zum Aus-der-Haut-fahren.» Johannes Nepomuk Sepp, dieser wichtige bayerische Kenner des Volksglaubens, sieht hier den Rest des alten Glaubens an den Werwolf. Gerade in der körperlich und seelisch harten Zeit des Jahres soll ja dieser «ausgefahren» sein: Dadurch wurde er frei von der inneren Vergiftung durch Verbitterung, Rachsucht und Zorn.
Rotkäppchen auf dem Schicksalsweg
Im Märchen geht die Jungfrau «Rotkäppchen» durch den finstern Wald. Die Mutter mahnt sie, keinen Schritt vom Wege abzuweichen. Tut sie es doch, holt sie der Wolf: Dieser redet wie ein Mensch und geht auch auf den Hinterbeinen - er ist also deutlich der Werwolf.
Das Märchen wurde mir erst vollkommen verständlich, als der Zigeunergeiger Baschi und ich durch eine Wahrsagerin in die Bildkarten des Tarot eingeweiht wurden: Die weise Frau wirkte in ihrem Wohnwagen vor allem zwischen der Camargue und Avignon. Sie versicherte, daß ihre nahen Ahnen noch um die Jahrhundertwende am Schwarzen Meer herumzogen. Sie seien «etwas ganz Besonderes gewesen»: Sie standen aber auf alle Fälle mit dem Volk der Kupferschmiede und Kesselflicker (Khalderasch) in enger, verwandtschaftlicher Verbindung.
Unter den «Großen Trümpfen (arkanen)» des Tarot war ihr besonders das Bild 18 wichtig. Es zeigt die Nacht und den «über unseren geheimnisvollen Lebenspfaden» schimmernden Mond: Gerade dieser bedeutete ihr zufolge die «tierische Lebenskraft in uns» (la force animale et vitale). Die «Sonne der Nacht» steuert nach dem Volksglauben Ebbe und Flut, Wachstum und Vergehen aller irdischen Wesen. Wir erkennen dies in der monatlichen «Reinigung» der Frauen, deren durchschnittliche Dauer «einen Mondmonat von 28 Tagen» beträgt.
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