Von den Kindern, die in den Alpen, wie einst im alten Griechenland, das verwegene Ziegenvolk hüteten, wird etwa berichtet: Die dünnere Luft der Gebirge und die eigenartigen Erscheinungen des Wetters in den Höhen konnten leicht eine Art «Rausch» erzeugen. Die Umwelt erschien dann eigenartig belebt. Hinter den mächtigen Felsblöcken der Bergwiesen schien auf einmal ein gehörntes Haupt hervorzublicken, das kaum einem Tier angehören konnte...
Von den griechischen Hirten wird uns versichert, daß sie gelegentlich beim Ziegenhüten von einem «panischen Schrek-ken» ergriffen wurden. Die Anstrengungen beim Zusammenhalten der Herde und die erwähnten Naturerscheinungen erzeugten offensichtlich ganz ähnliche Erscheinungen wie im Alpenraum.
Bei den Versuchen, die so gern mit dem Menschen scherzenden Tiere einzufangen, verloren auch geübte Bergkinder leicht den regelmäßigen Atem. Wie man es mir erklärte: «Man fällt wie halberstickt auf den Boden. Bilder steigen wie im Traum auf und wirbeln durch den Kopf. Es ist auf einmal, als wäre man in einem anderen Land, in dem ziemlich alles möglich ist.»
Die Alphütten sind aus mächtigen Balken zusammengefügt. Diese ruhen auf der festen, auch nicht durch Stürme erschütterbaren Grundlage von mächtigen, oft ganz unbehauenen Felsblöcken. In diese hinein führt eine niedere Holzpforte in den dunklen Ziegenstall.
Dieser ist eigentlich noch immer eine Höhle, nicht anders als in der Urzeit. Die gleiche Landschaft erzeugte also einen ähnlichen Lebensstil durch Jahrtausende.
Geister entsteigen dem Urgestein
Wohl jeder Mensch unserer fernen und nahen Vergangenheit kannte Geschichten um Begegnungen mit wunderbaren Geschöpfen. Doch die Zahl der geborenen Märchenerzähler, die fast berufsmäßig darüber redeten, war zu allen Zeiten gering. Sie waren zum Schauen geboren - sie waren Seher.
Savi-Lopez, eine begnadete italienische Sammlerin der Alpensagen im 19. Jahrhundert, hat solche Menschen geschildert. Wenn sie in ihrem Kreis zu erzählen begannen, mußten sie erst in die richtige Stimmung kommen; doch dann erkannte man es an ihren Bewegungen, am Blick ihrer Augen, die nun in unbestimmbare Fernen schweiften. Ihre Geschichten waren nun nicht mehr die Wiedergabe der Erinnerungen, die sie von ihren Großeltern gehört, sie waren nun selbst ihre wiedererwachten Ahnen, die auf ihren Wanderungen all die Wunder geschaut hatten.
Die Runde, die ihnen atemlos zuhörte, war ihnen nun gleichgültig; höchstens war ihnen die gläubig-gespannte Erwartung ihrer Umgebung wichtig. Diese stärkte ihren Geist, noch tiefer in den Schatz der uralten Bilder in ihrer Seele zu greifen, aus dem sie mit wachsender Leidenschaft schöpften.
Sie sahen die Waldkobolde, die Hexen und die wilden Halbtiere, von denen sie erzählten. Sie sahen sie als eine Wirklichkeit, und sie hätten einen Gast für einen Irren gehalten, der in diesem Augenblick solche Wesen in Frage gestellt hätte! Ihre Schau übertrug sich jedesmal auf die Zuhörer, wenn sie auch nur ein bißchen Bereitschaft dafür besaßen. Diese Zeugen hätten die nachträgliche Frage eines Forschers, ob eine bestimmte Geschichte «gut» erzählt worden sei, nicht begriffen.
Auf eine solche Frage hätten sie verständnislos mit den Schultern gezuckt. Die Erzählung kam wie ein Zauber über sie; sie hatten sie miterlebt. Auch wenn sie in früheren Jahrhunderten spielte, für sie war es eine Tatsache, an der es nichts zu rütteln gab. Sie hatten sie mitgeschaut.
Ich habe noch in den frühen fünfziger Jahren in einer Alphütte vom Jahre 1807 im Stollen ob Unterseen auf diese Weise die Geschichte vom «Hardermannli» gehört: Dieses, wild und haarig, mit nicht sehr langen Ziegenhörnchen, lebt noch heute in den Bräuchen: In den Wäldern vorn Harderberg lebt es mit seiner ganzen Familie in einer dunklen Höhle. Manchmal kommt es heraus beobachtet von Ferne die Menschen. Als später Neujahrsbrauch oder erstes Fasnachtsspiel sieht man es jeweils am 2. Januar durch die Straßen des Fremdenorts Interlaken ziehen. Die Menschen, die die Geschöpfe aus der Urlandschaft spielen, tragen Holzmasken. Die se wurden meistens vom gleichen Meister geschnitzt, von dem ich selbst noch einige Sagen vernahm.
Was ich in der alten Hirtenhütte erlebte, war ein klassischer Erzählabend, mit allem, was dazugehört. Im Herd knisterte es, und die Feuerflammen warfen ihren Schein durch die schmalen Spalten. Ein Geiger, der noch beim Fahrenden Volk gelernt hatte, spielte seine Weisen. Sie tönten kaum anders als in Siebenbürgen, Rumänien oder der Ukraine: All die Länder, durch die seine Vorfahren wanderten.
Wir hatten vom Hardermannli und Harderwibli geredet und die Sagen erzählt, wie sie etwa in den Büchern der Sammler stehen: Das Kloster Interlaken sei während des Burgundischen Königreichs zwischen den Aipenseen von Thun und Brienz entstanden. Schon die «Heiden» hätten dort gehaust, sogar die «alten Griechen» seien herübergekommen. (Man behauptete früher sogar allgemein, die Mädchen des nahen Dorfes Bönigen hätten noch immer «schön gerade griechische Nasen».)
Hatte der Abt des Klosters zu viele Bücher des Altertums in seiner Bibliothek? Man versichert, er habe den örtlichen Mädchen aufgelauert und beim Baden nachgestellt. Einige sagen, er habe sich dazu als Ziegenmann verkleidet. Andere versichern, er sei zur Strafe nach seinem unseligen Tode in ein gehörntes und behaartes Schreckgespenst verwandelt worden.
Der bejahrte und sehr langhaarige Besitzer der Hütte begann nun dazu eine «moderne» Geschichte zu erzählen: Im Frühling seien vor ein paar Jahren heranwachsende Mädchen aus einem Mädchenpensionat auf den Harderberg gestiegen. Noch immer lebte ein Teil der Talbewohner vom Sammeln und Verkaufen der berühmten Alpenkräuter. Sie handelten mit ihnen in den Gasthäusern: Diese einheimische «Würze» sollte bei den Gästen eine ausgezeichnete Verdauung bewirken. Der Alpenraum galt damals noch bei vielen als wahrer Jungbrunnen der Gesundheit.
Hinter einem Felsblock nun hätten die Mädchen hervorguckende Hörner erblickt. Sie nahmen an, es sei der Bock einer der damals noch häufigen Ziegenherden, der sich hier verstiegen hatte. Ahnungslos versuchten sie, das Tier zu locken, um es dann ins nahe Dorf zu seinen Besitzern hinunterzubringen.
Doch wie entsetzt waren sie, als unter den Hörnern ein lachender Kopf voll mit braunem und silbernem Haar hervorschaute. Das Geschöpf erhob sich zu seiner ganzen, übermenschlichen Größe. Es war von allen Seiten mit dichtem Fell umgeben. Mehr zu erkennen war vor Schreck unmöglich. «War es ein halbes Tier oder ein mächtiger Mensch, in Fell gekleidet?» Die Mädchen stürzten die Bergwege hinab. Sie konnten sich später nicht mehr daran erinnern, ob das Wesen ihnen gefolgt sei.
Tagelang lagen sie in heißem Fieber, tranken beruhigenden Kräutertee und erzählten Geschichten von ihrer «struben» Begegnung. Sie wußten später kaum noch, was davon wahr war und was ihnen dann durch ihre Erkrankung nur so «erschien».
Wir hatten vorher in der alten Hütte über die Alpensagen recht vernünftig geredet. Das Bild, das der Bergler sah und mit dem er unsere Einbildung befeuerte, war aber lebendig. Es war so verschieden von den geäußerten Meinungen, wie die Wirklichkeit von einem Schulbuch: Wir sahen das Hardermannli hinter seinem Felsen hervorkommen, ganz als wären wir zusammen mit den armen Mädchen in dessen Reich geraten. Plötzlich ertönte draußen das Meckern einer echten Ziege. Der Klang bildete den Schlußstrich unter die Geschichte, wie ihn wohl besser kein Dichter hätte erfinden können.
Blitzartig verstand ich, wie in gewissen Landschaften die Sagen durch Jahrtausende überleben: Wenn man nur will, entstehen sie immer wieder neu.
Geschöpfe der Eiszeit: Die Yetis
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