Die auch von Pausanias betonte sinnliche Leidenschaft der roten Satyrrasse des fernen Westens scheint ebenfalls einen Wahrheitskern zu enthalten. Es wird berichtet, daß man während den Kämpfen der Angelsachsen mit den indianischen Urbewohnern von Nordamerika diese gerade für ihre «Wollust» haßte ... Sehr viele Frauen, die von den «Wilden» geraubt wurden, kämpften nachträglich sehr häufig gegen jeden Versuch ihrer entsetzten Angehörigen, sie zu befreien. Das Liebesleben der Indianer war offensichtlich im guten Sinn sehr naturverbunden: Ihm gegenüber erschienen die Zustände unter den gehemmten Weißen als eine Verhöhnung der angeborenen Sinnlichkeit.
Schon bei Columbus und anderen Amerikafahrern werden die Stämme Amerikas geradezu mit Menschen vor dem Sündenfall verglichen. Dauernd werden wir an die griechisch-lateinischen Berichte über Satyre und Faune erinnert, in denen diese «roten» Menschen bald mit Tieren und dann wieder mit den lebensfreudigen Göttern verglichen werden.
Gelegentlich wird angenommen, daß William Shakespeare in seiner Dichtung Der Sturm die Märchen der Seeleute über die westlichen «Inseln» verwendete. Die Berichte über deren Einwohner erschienen ihm so verwirrend, daß er darum die verschiedenen Wundereigenschaften auf zwei Zaubergeschöpfe verteilte: Da ist einmal der engelhafte, mit seinen magischen Kräften spielende Ariel, dann der unbezähmbare, grausame, urmenschliche, fast noch auf der Tierstufe stehende Kaliban. Beide scheinen den Eindruck einer in Amerika neuentdeckten Menschheit wiederzugeben, deren Eigenschaften für die Zeitgenossen von Shakespare gleichermaßen schwer verständlich waren: Der große Dichter machte deren Heimat zu einem echten Feenland und verteilte die verwirrenden Eigenschaften auf grundverschiedene Gestalten.
Gab es die «roten» Satyre oder Faune nicht nur auf den Inseln der Phantasie, womit die Seeleute von Pausanias bis Shakespeare ihre Hörer bald abschreckten - und dann wieder zu neuen Abenteuern verlockten? Die Nomaden von Europa versichern, daß es einen roten Zigeunerstamm gab, der äußerlich und in seinen Bräuchen vollkommen den Indianern entsprach: Er lebte inmitten der Natur, und das Feuer, das er zu seinem Dasein brauchte, war für ihn heilig.
Eine Reihe von neueren Forschern verband Sagen und Phantasie. Die Indianer und Zigeuner, zumindest gewisse ihrer Stämme, erscheinen ihnen als zwei Äste des gleichen Baums: Auf uralten Wanderwegen kamen sie in die entgegengesetzten Erdteile. Die einen nehmen an, dies sei dank der Meerenge zwischen Sibirien und Alaska geschehen. Für andere gab es eine in vorgeschichtlicher Zeit versunkene Landbrücke im Atlantischen Ozean, die man nach den Berichten des griechischen Philosophen Plato Atlantis nennt.
Noch heute gibt es vom Balkan bis in die Provence tatsächlich Sippen, deren Haut in der Sonne rötlich aufglänzt. Sie betrachten unsere Steinhäuser als «Gräber und Gefängnisse». Ihre Lebenskraft erklären sie aus den Jahrtausenden, durch die hindurch ihre Ahnen sich «als Brüder und Schwestern der wilden Waldtiere» ansahen.
Beschwörung durch magische Künstler
Der große Pan, der Waldgott und der Musiker des Nymphenreigens, erlebte in der Kunst des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Auferstehungen: Aus den Wolken der Phantasien von Malern und Dichtern trat er gelegentlich in die Wirklichkeit.
Der englische magische Schriftsteller Aleister Crowley (1875-1947) übte mit seiner offenen Pan-Verehrung einen besonderen Einfluß auf die Künstler von Ascona aus. Sein Buch Mondkind enthält bekanntlich viele echte Einzelheiten aus seinem eigenen Dasein und dem seiner Anhänger. Der Held der Geschichte feiert darin seine Flitterwochen. Sie finden in einer der Märchenvillen statt, umgeben von Olivenbäumen, Thamarinden, Orangen und Zypressen. Der Gehweg auf den Berg ist aus Marmor. Aus nacktem Felsen rinnt das klare Wasser in ein kreisförmiges Becken.
Dort wäscht sich die Braut im Mondlicht und sieht dann aus, als sei sie von einem glänzenden Nebel umhüllt. Der Geliebte naht sich ihr aus der Wildnis. Er ist in ein geheimnisvolles Kleid gehüllt, selbstverständlich aus Ziegenhaut. Von einer solchen Vereinigung, die genau das griechische Urbild verwirklichen sollte, erwartete man eine allseitige Liebe und ein Versinken im Strom der Lebenskraft.
Müde und erschrocken vom naturfernen Wachstum der Schwerindustrie und der Städte flohen die Gebildeten zu den noch unzerstörten Stränden von Capri und Korfu, nach Sizilien und Kreta. Der Massentourismus war noch nicht erfunden, das dortige Dasein gesund und billig, die Einheimischen gastfreundlich und im Kulturkreis uralter Sitten lebend.
Es war eben damals im Süden nicht teuer, sich von «geborenen» Handwerkern eine Behausung bauen zu lassen, die an die Hochkultur des Altertums erinnerte. Wer es sich leisten konnte, stellte seine Landsitze gern Künstlern in bescheidenen Verhältnissen zur Verfügung. Man wollte eben im noch «griechischen» Süden ein anderes Leben als im kalten und geizigen Norden führen. Auch sah man seine Großzügigkeit glänzend belohnt! Die Dichter und Maler als Hausgenossen wußten den sie beherbergenden Besitzer mit Erzählungen über die «zeitlose Welt des Pan» mitzureißen.
Die magisch-theosophischen Überlieferungen erwachten kraftvoll. Ihre Vordenker suchten Anregungen bei den griechischen Philosophen, besonders den Neu-Platonikern. Der Hirte im wilden Reich der Ziegen wird zum Vorbild. Er erkennt die Natur um sich als göttliche Schöpfung und fühlt sich dadurch selbst als göttliches Kunstwerk. Noch der Maler und Magier Austin Osman Spare (1886-1956) sieht darin ein erhabenes Sinnbild: «Einst habe ich unter euch gelebt. Aus Selbstachtung bewohne ich nun die Orte der Wildnis. Ich bin ein williger Verstoßener, der Gefährte der Ziegen, erhabener und aufrechter als ein Mensch.»
Man hörte noch in unserem Jahrhundert von Festen, die an einsamen, von Mondlicht verzauberten Stranden stattfanden. Selbstverständlich mögen solche Versuche, Seelenstimmungen des vergötterten Altertums zu wiederholen, auch viel komisches Mißverständnis erzeugt haben. Aber man kann über eins sicher sein: Die Einzigartigkeit der Naturlandschaften tat das ihre! Das rauschende Meer und der die Gestirne zurückglänzende Meeresspiegel verwandelten jedes einfache Maskenspiel in einen ewigen Traum.
In sein Bocksfell gehüllt tanzte der «Herr der Ziegen» heran, begrüßt von Flötenklang, Mandoline oder auch Zimbelschlag. Er brachte den Gruß der Berge, die man irgendwo im Dunkeln des Hinterlandes ahnte, und ihrer Quellennymphen. Wilde und oft halsbrecherische Bewegungen des Pan, Satyr, Faun, oder wie man ihn gerade nannte, sollten stets «übersinnliche» Leichtigkeit und «tierische Sicherheit» verraten: Leute führten hier ihre ekstasische Kunst vor, in der sie urtümliche Volks bräuche mit abenteuerlichen Lehren verbanden, die sie an modischen Tanzschulen vernahmen.
Solche Vorführungen in den Märchenvillen des 19. Jahrhunderts sollten «eine Nacht in der anderen Zeit» verwirklichen. Dies galt den Menschen «mit griechischer Seele» geradezu als Heilmittel gegen die Zivilisationsmüdigkeit, also wider Trübsinn und Melancholie: Durch diese entstanden ja, ebenfalls nach altgriechischer Lehre, eine Unzahl von schweren Körperleiden - die sich beim Menschen nach und nach mörderisch auswirken.
Mein Onkel, der Lyriker Anatol von Steiger, erzählte mir als Kind eine Fülle solcher Geschichten, die er mit Lust sammelte. Er selber entzog sich nach Möglichkeit den schwarzen Schatten der dreißiger Jahre, den Schrecken der Großstädte mit ihren zunehmenden Massenkrisen. Er hatte tatsächlich auf einer griechischen Insel noch ein solches «Satyr-Fest» erlebt, das ein wohlhabender Arzt auf seinem Sitz veranstaltete. Mein Onkel litt, wie zahlreiche seiner Zeitgenossen, an Schwindsuchtanfällen. Er versicherte, die Stimmung des Lebensfestes habe seine Gesundheit für einige Jahre wiederhergestellt. (Er starb dann während des zweiten Weltkriegs, weil es damals völlig unmöglich war, an die sonnigen Ufer Griechenlands zu reisen.)
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