Man hat sogar versucht, in jedem seiner Körperteile das Sinnbild eines Teils der Welt zu sehen, die er in ihrer Gesamtheit belebt. In den Hörnern erkannte man etwa den Mond, in den Haupthaaren die Sonnenstrahlen, im Bauch das Meer. Das Fell, das seinen Unterleib bedeckt, wäre demnach der Pflanzenwuchs, seine Füße mit ihren Hornhufen die feste Erde. Das gefleckte Pantherfell, in das er sich hüllt, deutete man als Bild des gestirnten Himmels. In seiner siebenfachen Pfeife sah die alte Astrologie eine Anspielung auf die alldurchdringende Wirkkraft der sieben Planeten.
Nach der Überlieferung ist er eine Art Lehrer der himmlischen Götter, denen er durch seine urzeitliche Weisheit zum Sieg über die Feinde des Daseins verhilft. Als diese durch den schrecklichen Typhon und dessen Titanen von ihren strahlenden Thronen vertrieben werden, gibt er ihnen den entscheidenden Rat: Sie sollten sich in verschiedene Tiere verwandeln, wie er selber in den Ziegenbock. Sie taten es auch, verbargen sich in der Wildnis vor ihren größenwahnsinnigen Feinden und gewannen wieder urtümliche Kraft für ihren nächsten Sieg. Nederich faßt zusammen: «Diese Erfindung (der nützlichen Annahme einer vorübergehenden Tiergestalt) schlug wohl aus. Darum setzten die anderen Götter sein Bild, unter dem Namen des (Tierkreiszeichens) Steinbock, mit unter die Sterne.»
Obwohl die alten Griechen in ihren malerischen Städtchen ein geschmackvolles und schön geordnetes Dasein liebten, feierten sie ihre wilden Nachtfeste. Die Frauen riefen dann die Mächte der Natur an, die Gewalten des verzückten Rausches. Karl Kynast, der die Überlegenheit der nordisch-germanischen Rasse verkündete, hielt dies für ganz und gar uneuropäisch! Hier sah er bereits Vorläufer der einheimischen Hexenfeste: «Die liebestolle, dionysisch entfesselte Bacchantin, die zur Nachtzeit, unter Fackelschein und gellendem Flötenspiel, Schlangen in den Händen schwingend, das mit den Zähnen zerrissene Fleisch der Opfertiere roh verschlingend, in lärmenden, tobenden, wildtanzenden Haufen durch die Bergtäler zieht, um das Schweigen der Wälder mit ihrer schamlos röhrenden Begierde zu erfüllen.»
Auf den Bildern dieser Feste toben die Satyre oder Faune zusammen mit den Frauen in der Wildnis herum. Es ist wiederum schwer zu unterscheiden, ob es sich um maskierte Mitspieler handelt oder um Naturkobolde. Es mag wohl wie bei gewissen modernen Festen der schwarzen, braunen und roten Völker Amerikas sein: Kein Mensch weiß nachträglich so genau, was während des entfesselten Tobens Wirklichkeit war...
Oft mögen schon gewisse Haltungen der tanzenden Leiber genügt haben, um in den Zuschauern die Bilder eines Pan oder der Satyre heraufzubeschwören. Wie im griechischen Liebesroman Daphnis und Chloe von Longus der junge Ziegenhirt, der auf Zehenspitzen herumspringt, um die «Bocksfüße nachzuahmen»: Der Mensch spielt das von ihm bewunderte Tier, um dadurch das Geheimnis von dessen Leben zu erfühlen.
Verfasser wie Kynast sehen in solchen Bräuchen den Einfluß einer «dunkeln Rasse», die vor den eigentlichen Griechen im ganzen Balkan lebte. Auf sie führt er Kultureinflüsse zurück, die er fanatisch ablehnt. Sie seien eben dem vernünftigen, verstandesmäßigen Geist des Abendlandes entgegengesetzt. Die Satyre sind für ihn eine Erinnerung an die Hirtenvölker der sagenhaften Pelasger und deren halbtierische Götter. Als Beweis gelten auch ihm das Aussehen dieser Geschöpfe, das stark von dem der «olympischen» Götter und Helden ab weicht. Man betrachte tatsächlich die häufig betonte abweichende Hautfarbe, den eigenartigen Bartwuchs oder die starken, etwas gekrümmten Nasen der abgebildeten Ziegenleute.
Als der große Philosoph Hegel in den Jahren zwischen 1793 und 1796 im Hirtenlande der Voralpen an den Grundlagen seiner Philosophie arbeitete, sah er es anders. Er bewunderte gerade im erwähnten tollen Treiben der griechischen Nachtfeste die ganze tiefe Weisheit der antiken Kultur: «Wenn die Phantasie griechischer Bacchantinnen überschwappte bis zum Wahn, die Gottheit selbst gegenwärtig zu sehen, und zu den wildesten Ausbrüchen einer regellosen Trunkenheit - so war dies eine Begeisterung der Freude und des Jubels...» Dies habe die Teilnehmerinnen der Feste nicht gehindert, an den nächsten Tagen den gewohnten Platz in der guten Gesellschaft einzunehmen. Niemand verfolgte sie wegen ihres wilden Nachtlebens -und sie selbst taten alles, angenehme Mitbürgerinnen ihrer kleinen Königreiche und Republiken zu sein.
Die Hexen des Alpenraums und der Nachbarländer mögen aus den gleichen Überlieferungen stammen. Doch sie wurden wegen ihrer nächtlichen Ausbrüche nicht anerkannt und seit dem 15. Jahrhundert grausam verfolgt. Sie fühlten sich darum selber als trübsinnige Außenseiter! Sie sanken in verständliche Verbitterung, die das ganze Volksleben vergiften konnte. Hegel faßte dies entsprechend zusammen: «Aber jene religiösen Ausschweifungen der Phantasie sind (im europäischen Hexentum, S. G.) Ausbrüche der traurigsten Verzweiflung, die die Organe (des Menschen) von Grund auf zerrüttet haben, häufig unheilbar...»
Wenn gegen Ende der Antike die Tierkulte stark zunahmen, war dies kein direktes Zeichen des Verfalls. Die überzivilisierten Griechen und Römer hofften, in der Weisheit der Hirten und Jäger neue Lebenskraft zu finden: Doch dies war nun einmal im verstädterten Römischen Reich nicht mehr möglich.
Die Griechen hatten ihre Welt wohl als erste «Europa» genannt. Sie vollbrachten eine schwer nachvollziehbare Leistung, von der ihre Kunst und Philosophie zeugen. Sie liebten eben beides: Das klare «harmonische» Denken - und die Entfaltungen der tierischen Lebenskraft.
Nachricht von der Roten Rasse
Für die Völker des Altertums gab es also die Satyre tatsächlich. Man scheint vermutet zu haben, daß Menschen mit deren wunderbaren Eigenschaften geboren werden können, sogar mit den aus ihrem Schädel hervorkeimenden Hörnern, «wie sie neugeborene Böckchen haben».
Nitsch und andere Altertumsforscher des 18. Jahrhunderts haben bereits mehrfach daraufhingewiesen: «Nach Galen (bei Hippokrates) wurden die Satyre mit harten Knorpeln hinter den Ohren gemalt... Die Bildner verlängerten diese hervorragenden Knorpeln oft zu kleinen Hörnern und wandelten die Menschenfüße in Bocksfüße um.» Nach dieser Auffassung hat das Altertum gewisse äußere Körpereigenschaften, die bestimmte Menschen tatsächlich haben können, nur künstlerisch übertrieben.
Man war offensichtlich überzeugt, daß es ganze Erdteile geben konnte, die von Rassen bewohnt waren, die ziemlich den Satyren der Sagen entsprachen. Die Vertreter der Ansicht, daß der Erdteil Amerika schon den Naturkundigen des Altertums bekannt war, verweisen auf eine Stelle bei Pausanias. Wenn man ihm glaubt, befanden sich weit hinter der Meerenge des Herkules die Inselreiche der Satyre. Wie man genau weiß, handelt es sich bei dieser vielerwähnten Wasserpforte um die Seestraße von Gibraltar, Wenn nun die alten Matrosen durch die se kamen und bis in den Atlantischen Ozean vorstießen, nahten sie Ländern mit wilder Natur. Zivilisation, zumindest im Sinn der Staaten des europäischen Mittelmeerraums, sollte es in diesem Raum keine geben.
Das wollüstige Volk der Satyre lebte dort. Sie hatten mächtige Tierschwänze, die nach der Stelle bei Pausanias so groß waren wie die Roßschweife. Neuere Deuter dieser Stelle haben gelegentlich angenommen, daß es sich um mißverstandene Berichte der alten Matrosen handelte. Die niederhängenden Schwänze könnten vielleicht Hinweise auf einfache Bekleidungsstücke aus Tierhaaren sein, wie wir sie bei den Naturvölkern finden.
Am auffallendsten an diesen Geschichten der Seeleute ist der Hinweis, daß dieses Volk ausgesprochen «rote» Hautfarbe besitze - wie man sie auch sonst dem gesamten Satyrengeschlecht zuschreibt. Dies würde tatsächlich darauf hinweisen, daß die se Geschichte von der roten Rasse, zu der man über den westlichen Ozean kommt, auf Tatsachenberichten beruhen könnte: Die Indianer lebten in einer rauhen Umwelt nackt bis spärlich bekleidet. Ihre Haut besaß auch eine annähernd rötliche Farbe. Wie man weiß, wurde dieser Eindruck bei diesen Jäger- und Kriegerstämmen noch bewußt verstärkt. Sie bemalten sich entsprechend, so daß ihre Beobachter schon durch ihr Aussehen dauernd an Blut, Feuer und «glühende» Leidenschaften erinnert wurden.
Читать дальше