Dann wurde sie schlagartig wieder ernst. »Ich weiß sehr gut, dass es dir und deinem Volk gleichgültig ist, ob ich hier herrsche oder Branbart. Vielleicht wünschst du dir sogar heimlich, dass die Trolle kommen, weil du uns Elfen gedemütigt sehen willst. Den meisten Lutin wäre es doch sicher eine große Genugtuung zu erleben, wie aus uns Elfen landlose Flüchtlinge werden ... wie die Herren von einst das Schicksal deines Volkes teilen. Doch es geht um viel mehr als die Rachsucht der Trolle. Du weißt, dass die Yingiz ihren Weg hierher gefunden haben, und sie werden sich nicht damit begnügen, nur Beobachter zu sein. Ich weiß nicht, wie sie hierher gelangen konnten. Vielleicht hatten die Trolle einen Pakt mit ihnen geschlossen. Vielleicht sind die Yingiz auch nur durch einen unglücklichen Zufall hierher gelangt. Wie dem auch sei: Ich weiß nicht, wie man sie bekämpft. Ich bin mir nur in einem sicher, nämlich dass sie das Land in einem Ausmaß zerstören werden, wie es selbst die Trolle nicht könnten. Deshalb bitte ich dich, mit Ollowain nach Iskendria zu gehen. Allein die Alben verfügten über das Wissen, wie man die Yingiz vertreibt. Sie müssen uns einen Hinweis darauf hinterlassen haben, was zu tun ist, wenn die Yingiz zurückkehren! Und ich wüsste nicht, wo man suchen sollte, wenn nicht in Iskendria.« Emerelle blickte zu den Schatten, die die Maulbeerbäume im Mondlicht warfen. »Sie sind hier, Ganda. Spürst du sie?«
Ollowain sah sich um. Er fühlte sich beobachtet. Unruhig spähte er in die Schatten. Aber dort war nichts, was er mit dem Schwert hätte bekämpfen können.
»Wenn ihr die Albenpfade nehmt, begebt ihr euch in das Reich der Yingiz«, fuhr Emerelle fort. »Sie werden versuchen, euch aufzuhalten. Ihr Lutin seid berühmt für eure Verschlagenheit und für eure Gabe, Dinge zu finden, von denen ihre Besitzer manchmal noch gar nicht wissen, dass sie sie verloren haben. Niemand wäre besser geeignet für diese Suche als du. Und bedenke: Du gehst nicht für mich nach Iskendria, Ganda, und auch nicht für mein Volk. Du gehst für Mondblüte und all die anderen Auenfeen. Du gehst, um die Schönheit des Herzlands zu bewahren, die Lieder der Nachtigallen und das Zirpen der Grillen. Horche in dein Herz hinein und höre auf seinen Rat. Ich erwarte, dich in einer Stunde am Albenstern im Thronsaal wieder zu sehen — oder niemals mehr.«
Erneut zuckte die kleine Fuchszunge nervös aus Gandas Schnauze. Unvermittelt drehte sie sich um und lief ohne ein Wort davon.
Als Ganda die Terrasse verlassen hatte, wandte auch Emerelle sich zum Gehen.
»Herrin?«
Die Königin wirkte ungehalten, doch sie hielt inne.
»Warum betraust du gerade eine Lutin mit einer so wichtigen Aufgabe? Hat Hofmeister Alvias dir nicht von den Rotmützen erzählt, den Kobolden, die unverblümt fordern, die Elfenfürsten von ihren Thronen zu vertreiben? Ihr Anführer soll ein Lutin sein. Sie lassen in Werkstuben Flugblätter verteilen. Ich selbst habe solche Schmierblätter gesehen. Sie wenden sich angeblich gegen Völlerei, Trunksucht und dergleichen, aber in Wahrheit sind sie nichts anderes als ein Aufruf zur Rebellion. Wie kannst du unter diesen Umständen einer Lutin vertrauen, Herrin?«
»Weil es nicht um meine Königskrone geht. Sie wird nicht für mich gehen, sondern für jene, die ihr wirklich etwas bedeuten. Und du wirst auf sie Acht geben. Schütze sie vor Feinden und vor sich selbst.«
Ollowain seufzte. »Wie du befiehlst. Aber ich glaube nicht, dass Ganda in den Thronsaal kommen wird.«
»Würdest du eine Auenfee auf der Wiese am See vermissen?«, hielt die Königin dagegen.
»Nein«, gestand der Schwertmeister.
»Deshalb ist es wichtig, dass ihr beide geht. Und nun gib mich frei, Ollowain. Ich habe noch eine Frage an die Silberschüssel, bevor ihr euch auf den Weg macht.« Mit diesen Worten eilte Emerelle davon.
So war sie, dachte er bitter. Sie wusste zu viel über die möglichen Zukünfte, und es kam ihr nicht in den Sinn, diese Bürde mit anderen zu teilen. Dass sie ihn im Thronsaal ins Vertrauen gezogen hatte, war ein Augenblick der Schwäche gewesen. Doch nun war sie wieder wie stets zuvor. All ihr Trachten war darauf ausgerichtet, um die Zukunft Albenmarks zu kämpfen. Was mochte so schrecklich sein, dass sie die Gegenwart darüber vergaß? Hatte sie sie vergessen? Nein! Dann hätte sie nicht um den Tod Mondblütes gewusst.
Ollowain gab es auf, die Gedankengänge der Königin verstehen zu wollen. Sie war zu alt und zu weise. Er musste sie nicht verstehen, denn er wusste, dass sie mit all ihrer Kraft Albenmark schützen würde. Und darin würde er ihr dienen. Auch wenn sie nicht darauf antwortete, wozu man einen Schwertmeister in einer Bibliothek brauchte.
Wider die Spiel- und Trunksucht
Streitschrift des ehrwürdigen Elija Glops, Begründer der Liga zur Wahrung der inneren Größe Albenmarks
Kapitel 9: Vom Fluch des Falrach-Tischs
»(...) Eine Zeitverschwendung von wahrhaft elfischen Ausmaßen, so nenne ich das Falrach-Spiel, das ehrlich arbeitenden Gnomen und Kobolden, deren Leben nicht nach Jahrhunderten zählt, keine Zerstreuung, sondern nur Ärgernis schenkt. Was ist das für ein Spiel, dessen Regeln, Ausdeutungen der Regeln, Berichte berühmter Partien und Streitschriften über strittige Züge ganze Bibliotheken füllen? Haben die Alben uns erschaffen, um zu spielen? Ist es nicht unsere Aufgabe, die Welt zu formen, die sie uns hinterlassen haben? Hätten nicht sie uns das Falrach-Spiel geschenkt, wenn sie gewollt hätten, dass wir rauchend, trinkend und disputierend unsere Zeit am Spieltisch vertun? Welcher Nutzen erwächst daraus? Ja, ich kenne Falrach, den Helden der Drachenkriege, den größten Feldherrn Albenmarks, den selbstlosen Ritter Emerelles. Man nennt ihn auch den Retter Albenmarks, einen edlen Krieger, der alle Tugenden der Ritterschaft in sich vereint. Doch was hat Spielsucht denn mit einer ritterlichen Tugend gemein? So hell sein Stern auch strahlen mag, Ruhm und Größe tragen stets schon den Keim des Verfalls in sich, wenn sie nicht mit Genügsamkeit und Bescheidenheit gepaart sind.
Falrach rodete keine Wälder, er rang keinem steinigen Boden ein fruchtbares Feld ab. Seine Mußestunden verbrachte er damit, ein unnütz kompliziertes Spiel zu erschaffen. Allein der Tisch, auf dem die Spieler ihre Partien austragen, verschlingt hunderte von Arbeitsstunden, ja, ich kenne einen Elfenbeinschnitzer meines Volkes, der sein ganzes Leben damit verbrachte, um nichts weiter als die Spielfiguren der weißen Seite für den Spieltisch Shahondins zu fertigen, des Elfenfürsten von Arkadien. Darf dies der Sinn eines Lebens sein? Da lobe ich mir die Trolle, die, wenn sie spielen, sich mit ein paar Knochenwürfeln begnügen.
Falrach glaubte, jede Partie des nach ihm benannten Spiels sei eine Studie des Krieges — eine Lehre, dass selbst der schärfste Verstand nicht alle Unwägbarkeiten des Schicksals vorherzusehen vermag, die einen Krieg ebenso beeinflussen wie die Klingentänze auf den Schlachtfeldern. Und doch ist es genau das, wozu sich jeder Falrach-Spieler versteigt, wenn er Stunden um Stunden brütend auf den Spieltisch starrt. Er glaubt, sein Verstand könne dem Schicksal, verkörpert durch die Launen des Würfelglücks, mit überlegener Planung den Sieg abtrotzen.
Ich traf Elfenfürsten, für die ist das Leben ein Falrach-Spiel. Wir, ihre Untertanen, sind nichts als Spielfiguren, die man nach Belieben auf dem Brett hin und her rückt oder sogar opfert, wenn man sich einen Vorteil dadurch verschafft. Und ich traf Trolle, deren höchstes Glück eine blutige Bärenhatz ist. Sie stinken, und sie reden in groben Worten, doch wenn sie sich abends an ihrer Tafel niederlassen, dann findet sich dort ein Mahl, das die Ernte ihres blutigen Tagwerks ist. Und was findet der Falrach-Spieler auf seiner Tafel? Die üppigen Früchte der Arbeit anderer!
Читать дальше