»Es gibt hunderte Albenfade«, wandte Ollowain ein.
»In deinem nichtsnutzigen Leib gibt es auch hunderte Sehnen. Eine einzige zu durchtrennen kann bedeuten, dass du deinen Daumen nicht mehr krümmen kannst. Und wie willst du dann deine Waffe noch halten? Alles, was du dir in deinem langen Leben erarbeitet hast, kann mit einem einzigen kleinen Schnitt vernichtet werden. So unbedeutend ist es, eine Sehne zu durchtrennen.« Ganda blickte zu Emerelle. »Es sind Yingiz hierher gekommen, nicht wahr? Die Seelenfresser aus dem Nichts.«
»Sie können hier keine Gestalt annehmen«, wandte die Königin ein. »Sie können nur versuchen, uns zu ängstigen. Und sie bringen Kälte.«
»Und wenn jemand dumm genug ist, ihnen zu einem Leib zu verhelfen? Was dann? Du musst sie wieder vertreiben, Emerelle. Sofort!«
»Sie entziehen sich meiner Magie. Ich vermag ebenso wenig gegen sie auszurichten wie du gestern Nacht. Selbst die Alben konnten sie nicht gänzlich vernichten. Deshalb haben sie ihre Schatten in die Dunkelheit verbannt.«
»Dann musst auch du sie wieder vertreiben!«, beharrte Ganda leidenschaftlich.
Emerelle breitete hilflos die Arme aus. »Ich habe es versucht. Glaub mir! Mit all meiner Kraft, doch es ist mir nicht gelungen. Sie sind zu fremd. Deshalb habe ich dich hierher gebeten, Ganda. Ich brauche deine Hilfe.«
Ollowain traute seinen Ohren kaum. Er hatte ja geahnt, dass es kein Zufall war, Ganda mitten in der Nacht auf der Palastterrasse anzutreffen. Aber was hatte er mit diesem zänkischen Koboldweib zu schaffen? Und was erhoffte sich Emerelle von ihr?
Ganda hatten Emerelles Worte die Sprache verschlagen. Misstrauisch blickte sie zur Königin auf.
»Es gibt einen Ort, an dem man Antwort auf alle Fragen finden kann, so heißt es zumindest. Als ich noch nicht Königin war, war ich selbst mehrmals dort, und ich wurde nie enttäuscht. Die Bibliothek von Iskendria. Wenn man irgendwo erfahren kann, was zu tun ist, um die Schatten wieder ins Nichts zurückzutreiben, dann dort.«
Ganda schüttelte entschied den Kopf. »Das ist nichts für mich. Nein! Ich bin nicht weise. Ich habe nicht die Geduld, mir den Hintern auf harten Stühlen platt zu sitzen und mich mit Büchern herumzuschlagen, die so verdreht geschrieben sind, dass man jeden Satz dreimal lesen muss, um zu begreifen, was gemeint ist. Schick einen deiner Berater. Es gibt doch genug Gelehrte, deren Lebensinhalt darin besteht, Dinge aufzuschreiben, die nur ihresgleichen verstehen. Ich bin für das Praktische. Für geistreiches Geschwafel hatte ich schon immer nur Verachtung übrig. Lass mich in Blut und Dreck als Heilerin auf einem Schlachtfeld dienen, und ich werde dich nicht enttäuschen. Aber in Iskendria bin ich fehl am Platz. Mich leitet mein Gefühl. Und es hat mich selten getäuscht. Aus Dingen, die einem nur der Verstand diktiert, entspringt allzu oft Übles.« Sie deutete in Ollowains Richtung. »Schick ihn. Ihr Elfen seid doch alle gut darin, schöne Worte zu machen. Er wird keine Mühe haben, sich mit dem Geschwafel von Weisen herumzuschlagen. Ich werde hier nach einem Weg suchen, die Schatten zu bekämpfen. Und sei es, dass ich allen, die noch geblieben sind, rate zu fliehen!«
So waren sie, die Lutins, dachte Ollowain bei sich. Launisch, widerborstig und niemals bereit, Verantwortung zu tragen. Wie verzweifelt musste Emerelle sein, dass sie dieses Koboldweib um Hilfe bat! »Ich werde gerne gehen, wenn du mich schickst, Herrin. Und ich werde nach besten Kräften versuchen, dir zu dienen.«
Die Augen der Königin lächelten. »Ich weiß, Ollowain. Doch ohne Hilfe kannst du nicht einmal den ersten Schritt auf dem Weg nach Iskendria tun. Du vermagst das goldene Netz nicht zu betreten. Und ohne dich beleidigen zu wollen ... Auch du bist kein Weiser. Du bist ein guter Feldherr und vielleicht der beste Schwertkämpfer Albenmarks. Aber sei es drum. Ich habe dich hierher bestellt, weil ich dich in der Tat darum bitten wollte, Ganda nach Iskendria zu begleiten. Und ich nehme dein Angebot dankbar an.«
»Was soll ein Schwertkämpfer in einer Bibliothek?«, fragte die Lutin misstrauisch.
»Meine Weisen halten es zurzeit für klug, sich nicht in meiner Nähe aufzuhalten. Immerhin hat der König der Trolle geschworen, meinen Kopf in eine Trinkschale zu verwandeln. Sie waren die Ersten, die geflohen sind, als dies bekannt wurde.« Emerelle lächelte zynisch. »Klugheit und Treue gehen leider oft nicht gut zusammen. Aber dass ich dich frage, hat einen ganz anderen Grund. Niemand ist zu mir gekommen, um über Mondblütes Tod zu klagen. Und den Weisen wäre vermutlich auch nicht aufgefallen, dass die Grillen schweigen. Ich brauche jemanden, für den die Suche nach Antworten eine Herzensangelegenheit ist und nicht eine Sache kühlen Verstandes. Jemanden, der nicht der Meinung ist, die Auenfeen seien so zahlreich wie die Blüten am Teich, und dem es nicht egal ist, ob es eine mehr oder weniger gibt.«
Gandas spitze Zunge zuckte unruhig aus ihrer Fuchsschnauze. »Du weißt, warum ich nicht geflohen bin, als es hieß, die Trolle kommen, Emerelle?«
»Weil es dir egal ist, ob ich im Herzland herrsche oder ein Trollkönig.«
Ganda blickte skeptisch zu Ollowain. Sie nickte knapp. »So ist es, Emerelle.«
Der Schwertmeister hatte Mühe, an sich zu halten. »Du gestattest, dass ich diese Verräterin aus der Burg geleite, Herrin?«
Die Elfenkönigin schüttelte knapp den Kopf. »Aufrichtigkeit ist eine seltene Tugend, Ollowain. Gerade an Königshöfen.« Sie wandte sich an die Lutin. »Niemand ist so bewandert darin, verborgene Wege zu beschreiten, wie das Volk der Lutin.«
Der Schwertmeister wusste das nur zu gut. Die Lutin waren Betrüger und Diebe. Manche waren sogar Mörder. Wer sich mit ihnen einließ, der hatte Zwielichtiges im Sinne. Er konnte immer noch nicht fassen, dass Emerelle die Koboldin hierher bestellt hatte.
»Mein Volk hatte niemals eine Wahl, Emerelle«, sagte Ganda hitzig. »Wir bewegen uns im Verborgenen, weil wir als Einzige kein eigenes Land bekamen, als die Alben ihre Kinder erschufen. Und daran, dass wir ohne Land sind, hat sich in den Jahrtausenden, die seither vergangen sind, nie etwas geändert. Selbst als ganze Völker vertrieben wurden, hat nie jemand daran gedacht, uns Lutin eine Heimat zu schenken. Es waren stets die Elfen, die sich das Land nahmen.«
Wie konnte dieses impertinente kleine Weibsbild es wagen, der Königin solche Vorhaltungen zu machen! Ollowain zwang sich, ruhig zu bleiben. Er war der Schwertmeister, und dies war der Königshof. Auch wenn sie drei hier allein waren, war es ein Ort voller Würde und Schönheit, und es war ein Gebot, sich angemessen zu verhalten!
»Du giltst in deinem Volk als eine Pfadfinderin. Du führst die anderen oft an, wenn sie einen Ort schnell verlassen müssen. Das Netz der Albenpfade ist dir wohl vertraut, und soweit ich weiß, ist dir noch niemals ein Fehler beim Öffnen der Tore unterlaufen.«
»Ich weiß nicht, wer dir das erzählt hat, Emerelle, aber du solltest nicht alles glauben. Hast du nicht eine Zauberschüssel, in der du die Wahrheit sehen kannst? Benutze lieber sie, als auf Hörensagen zu vertrauen.«
»Du meinst die Silberschale, die du vor drei Nächten so lange betrachtet hast, als du dich allein im Thronsaal wähntest?«
Emerelle lächelte flüchtig.
Ollowain sah sie verwundert an. Das Lächeln wirkte fremd in ihrem Antlitz, und doch vermeinte er einen Augenblick lang etwas Altvertrautes in den Zügen der Königin zu sehen. Sie wirkte jugendlicher und weniger Ehrfurcht gebietend. Und verletzlich ...
Ganda kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. »Ich hatte überlegt, dass man die Zauberschüssel in Sicherheit bringen sollte, bevor die Trolle kommen.«
Ollowain spannte sich. Verdammte Diebin! Jetzt würde Emerelle ihm befehlen, sie hinauszuwerfen.
»Natürlich«, sagte die Königin schmunzelnd. »In jedem anderen Fall hätte ich dich schließlich hart bestrafen müssen.«
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