Es hatte wieder angefangen zu schneien. Große weiße Flocken tanzten vom Himmel hinab. Binnen Augenblicken waren die Kinder außer Sicht.
»Deine Waffe.« Sein Retter hielt Ulric den Dolch mit dem Griff voran hin. Es war ein großer, blonder Krieger. Einer der Männer, die mit seinem Vater in Albenmark gekämpft hatten. Auf seiner rechten Wange prangte ein halbmondförmiges Mal. Ein Brandzeichen. Diebe wurden so markiert.
»Du bist Mag, nicht wahr?«
Der Krieger nickte knapp. »Du solltest vielleicht nicht mit dem Dolch am Gürtel im Lager herumlaufen. Du könntest jetzt...« Er stockte. »Das hätte böse ausgehen können.«
Er also auch, dachte Ulric. Auch Mag zählte ihn zu den 64 Toten! »Ich bin ein Krieger! Ich habe das Recht, eine Waffe zu tragen«, entgegnete er trotzig.
Sein Retter schmunzelte. Feine Lachfältchen erschienen um seine Augen. »Verzeih mir, Ulric Alfadasson, Prinz des Fjordlands. Einen Augenblick lang hatte ich vergessen, wer vor mir steht. Irgendwie siehst du aus wie ein ganz gewöhnlicher Lausbub mit einer blutigen Nase.«
Ulric tastete nach seiner Nase. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie etwas abbekommen hatte. Misstrauisch musterte er Mag. War er tatsächlich freundlich, oder verspottete er ihn gerade? Manchmal war das verdammt schwer zu unterscheiden, wenn die Großen mit ihm sprachen. Sie sagten etwas und meinten in Wirklichkeit etwas ganz anderes.
»Reib dir die Nase mit Schnee ein, dann wird sie nicht mehr bluten«, sagte der Krieger freundlich.
Ulric klaubte eine Hand voll Schnee auf. Jetzt, wo er sich um die Nase kümmerte, schmerzte sie so sehr, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. Aber er war ein Krieger! Er würde jetzt nicht anfangen zu flennen.
»Kommst du mit mir in die Festhalle? Die Männer haben mit der Arbeit aufgehört, weil der Schnee zu dicht fällt. Ein Sturm kommt. Dieser verfluchte Winter scheint niemals mehr zu Ende gehen zu wollen.« Er grinste verschwörerisch. »Ich bin sicher, es gibt dort warmen Met für uns.«
Bei dem Gedanken an den Met wurde Ulric ganz übel. Anfangs war er ganz begeistert davon gewesen, dass er mit den Kriegern zusammen trinken konnte. Aber irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Dass man irgendwann auf dem binsenbestreuten Boden lag oder sinnlos herumlallte, war normal. So war es bei jedem Trinkgelage, das richtige Männer abhielten. Aber ihm wurde schon nach einem halben Horn Met ganz schwindelig. Und die Krieger um ihn herum bekamen Zwillinge. Manchmal sogar Drillinge! Keiner der anderen Männer schien dieses Problem zu haben. Außerdem musste er sich viel zu schnell übergeben, um Spaß am Trinken zu haben.
Inzwischen genügte schon der Geruch von Met, und ihm wurde ganz schlecht. Wo immer sich die Gelegenheit bot, drückte er sich vor den Versammlungen in der Festhalle. »Festhalle« war ohnehin ein viel zu großspuriges Wort für die windschiefe Scheune, in der sein Vater zum König gekrönt worden war. Ulric wünschte, er wäre wieder daheim in Firnstayn. Wenn doch nur alles wieder so sein könnte wie im letzten Herbst, als der Elf Ollowain gekommen war. Er würde Fechtstunden beim Schwertmeister der Elfenkönigin bekommen. Vater hätte Zeit für ihn. Mutter würde kochen und ihm hin und wieder das Haar zerzausen. Ulric schluckte. Früher hatte er es gehasst, wenn sie ihm das Haar zerwühlte und ihn an sich drückte. Er war viel zu groß, um so behandelt zu werden. Aber jetzt würde er alles dafür geben, wenn sie in diesem Augenblick bei ihm wäre. Ja, es wäre ihm nicht einmal peinlich, wenn sie ihm das Haar kraulte, während Mag neben ihm stand.
»Ulric?«
Der Krieger wartete immer noch auf eine Antwort von ihm.
»Ich ...« Nein, er hatte keine Lust, in die Halle zu gehen. Aber ihm fiel keine gute Ausrede ein.
»Ich könnte es einrichten, dass in deinem Methorn warme Milch mit Honig ist. Niemand würde bemerken, was du trinkst.«
Ulric sah den gebrandmarkten Krieger erschrocken an. Er wusste es also! Ob die anderen Männer wohl auch bemerkt hatten, dass er das Trinken nicht vertrug? Sicher lachten sie hinter seinem Rücken über ihn! Mag grinste nicht. Er sah ihn geradeheraus an. Wollte er ihm wirklich helfen? War er ein Freund? Oder war das wieder diese undurchsichtige Art der Großen, ihn zu verspotten? Ulric wusste einfach nicht, was er von dem Kerl halten sollte. Und er war sich ganz sicher, dass er nicht in die Festhalle wollte! Wenn doch nur ... Was hatte sein Vater noch immer gesagt, wenn er seine Ruhe haben wollte?
»Geh nur schon vor. Ich brauch ein wenig Zeit, allein mit meinen alten Wunden.« Ulric hatte nie ganz verstanden, wie sein Vater das gemeint hatte. Seine alten Wunden waren alle gut verheilt. Aber Mutter hatte ihn dann stets in Ruhe gelassen, wenn er das sagte.
Mag sah ihn verblüfft an. Er machte den Mund auf und schien etwas sagen zu wollen, dann schüttelte er nur den Kopf. »Bleib nicht zu lange draußen. Es zieht übles Wetter auf.« Der Krieger stapfte durch den hohen Schnee davon.
Ulric war überrascht, wie gut das geklappt hatte. Er würde den Spruch seines Vaters in Zukunft öfter nutzen.
Der Junge ging zurück zu dem Baumstumpf, von dem aus er den Arbeitern zugesehen hatte. Er wischte den frischen Schnee zur Seite und setzte sich. Ganz in Gedanken versunken, tastete er nach dem Elfendolch. Hätte Eirik ihn wirklich damit niedergestochen? Wer glaubte diesen Unsinn vom Wiedergänger wohl noch? Oder war es die Wahrheit? Hatten er und Halgard den Schicksalsweber erzürnt? Hatten sie seine Fäden durcheinander gebracht, und lag nun sein Fluch auf ihnen?
Bevor sie nach Albenmark zurückgekehrt war, hatte Emerelle mit ihm gesprochen. Es war die Elfenkönigin gewesen, die ihm und Halgard das Leben wiedergegeben hatte, nachdem sie beide unter das Eis geraten waren. Wenn er Emerelles Worten glaubte, dann waren sie nicht wirklich tot gewesen. Sie hatte ihm erklärt, dass im kalten Wasser der Lebensfunke weniger schnell verging, ebenso wie Fleisch nicht so schnell verdarb, wenn man es in einer Höhle mit Eis lagerte. Sie hatte geschworen, dass sie niemals jemanden von den Toten zurückholen würde, keinen Elfen und auch keinen Menschen.
Ulric hatte das Gefühl gehabt, dass allein der Gedanke daran die Königin mit tiefer Furcht erfüllte. Wer die Toten zurückholte, der war verflucht! Jedenfalls galt das hier im Fjordland. Wer sich gegen die Ordnung der Götter stellte, der forderte ihren Zorn heraus. Sie würden einem solchen Frevler alles nehmen, was ihm jemals etwas bedeutet hatte. Er wäre lieber tot als ein Wiedergänger, dachte Ulric. Aber Emerelle hatte ihn gewiss nicht belogen! Sie war die Königin der Elfen. Sie musste wissen, was es hieß, die Götter herauszufordern. Eirik war der Lügner!
Wenn doch nur Gundar hier wäre! Der alte Luthpriester aus Firnstayn war sein Freund gewesen. Gundar war gestorben, weil er ihn in den Bergen nicht allein gelassen hatte. Ihn zu tragen hatte die Kräfte des Priesters aufgezehrt.
Ulric schluchzte leise. Er brachte allen Unglück. Er hätte Gundar nicht folgen dürfen, dann würde der Priester vielleicht noch leben. Und wenn er in Honnigsvald nicht vom Schlitten seiner Mutter gesprungen wäre, dann wäre gewiss alles ganz anders gekommen. Mutter hatte alle, die ihr folgen wollten, hinaus aufs Eis geführt. Aber sie hatten Halgard verloren. Halgard war blind, und im Durcheinander der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt hatte sie nicht rechtzeitig zu den Schlitten zurückgefunden. Ulric hatte sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen können! Deshalb hatte er sich davongestohlen. Er war sich ganz sicher gewesen, es rechtzeitig zurückzuschaffen. Er hatte den letzten der Schlitten sogar fast noch berühren können. Seit diesem Tag in Honnigsvald hatte er seine Mutter nicht mehr gesehen.
Ulric kämpfte mit den Tränen. Sein Vater sagte, dass Asla nur in die Berge gegangen sei, um sich zu verstecken. Auch Sunnenberg war zuletzt von den Trollen erobert worden. Aber die Mehrheit der Frauen und Kinder hatte es geschafft, über den Rentiersteig in die Hochtäler zu flüchten. Noch immer waren Suchtrupps in den Bergen unterwegs. Trotz all der Wochen, die seit der Flucht vergangen waren. Ulric wusste, was die Verzagten hinter vorgehaltener Hand flüsterten. Dass niemand dort oben überleben konnte, wenn er keinen Unterschlupf und einen Vorrat an Holz und Lebensmitteln hatte. Man hatte viele Leichen in den Tälern gefunden. Die Flüchtlinge waren lieber erfroren, als den Trollen in die Hände zu fallen.
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