„Aslan würde vermutlich sagen, das sei nicht deine Geschichte, sondern die eines anderen“, sagte Aravis. „Ich frage mich, was es mit dieser Prophezeiung auf sich hat und vor welcher großen Gefahr du Archenland retten wirst.“
„Nun ja“, sagte Cor verlegen, „sie glauben, ich hätte es schon getan.“
Aravis klatschte in die Hände. „Aber natürlich!“ sagte sie. „Eine größere Gefahr wird Archenland wohl kaum mehr drohen als Rabadash mit seinen zweihundert Männern. Und in Archenland wußte man noch nichts davon. Bist du nicht stolz?“
„Ich glaube, ich habe ein wenig Angst“, sagte Cor.
„Und von nun an wirst du in Anvard wohnen“, sagte Aravis wehmütig.
„Oh!“ rief Cor. „Da hätte ich doch fast vergessen, warum ich gekommen bin. Vater möchte, daß du mitkommst, um bei uns zu wohnen. Bitte komm mit, Aravis. Vater wird dir gefallen – und Corin auch. Sie sind nicht wie ich; sie sind wohlerzogen. Du brauchst keine Angst zu haben ...“
„Halt den Mund!“ schalt Aravis. „Sonst bekommen wir wirklich noch Streit. Natürlich komme ich mit.“
„Komm, jetzt gehen wir zu den Pferden!“ schlug Cor vor.
Bree und Cor freuten sich riesig über das Wiedersehen. Bree, der noch immer etwas bedrückt war, willigte ein, sofort nach Anvard aufzubrechen. Am darauffolgenden Tag wollte er dann mit Hwin zusammen nach Narnia Weiterreisen. Alle vier verabschiedeten sich liebevoll von dem Einsiedler. Sie versprachen, ihn bald wieder zu besuchen. Dann machten sie sich auf den Weg. Die Pferde hatten erwartet, Aravis und Cor würden auf ihnen reiten, doch Cor erklärte, außer im Kriegsfall, wo jeder sein Bestes gäbe, ließe es sich niemand in Archenland oder Narnia träumen, ein sprechendes Pferd zu besteigen.
Das erinnerte den armen Bree wieder daran, wie wenig er über die narnianischen Gebräuche wußte und wie schrecklich er sich dort vielleicht danebenbenehmen würde. Und so wurde Bree mit jedem Schritt nervöser, während Hwin vergnügt vorwärts trabte.
„Kopf hoch, Bree“, sagte Cor. „Für mich ist es viel schlimmer als für dich. Immerhin brauchst du nicht zur Schule zu gehen. Statt dessen kannst du nach Herzenslust in den Hügeln von Narnia galoppieren und dich im Gras wälzen.“
„Aber das ist es ja gerade!“ stöhnte Bree. „Wälzen sich die narnianischen Pferde auch? Was ist, wenn sie das nicht tun? Ich könnte es nicht ertragen, das aufgeben zu müssen. Was meinst du dazu, Hwin?“
„Also ich werde mich auf jeden Fall wälzen“, antwortete Hwin. „Ich glaube nicht, daß sich jemand darum schert, ob du dich wälzt oder nicht.“
„Sind wir schon in der Nähe von diesem Schloß?“ wollte Bree wissen.
„Es liegt hinter der nächsten Biegung“, antwortete der Prinz. „Nun gut“, sagte Bree. „Ich werde mich jetzt noch einmal wälzen. Vielleicht ist es das letzte Mal. Wartet eine Minute.“ Es dauerte fünf Minuten, bis er sich schnaubend wieder erhob. „So, jetzt bin ich bereit. Geh voraus, Prinz Cor. Hoch lebe Narnia und der Norden.“
15. Rabadash der Lächerliche
An der nächsten Biegung traten sie zwischen den Bäumen hervor. Und da, jenseits der grünen Rasenflächen, lag Schloß Anvard. Der hohe, bewaldete Kamm in seinem Rücken schützte es gegen die Nordwinde. Es war sehr alt, und es war aus Steinen in einem warmen, bräunlichen Rot gebaut.
Noch bevor sie das Tor erreicht hatten, kam ihnen König Lune entgegen. Er sah überhaupt nicht so aus, wie sich Aravis einen König vorgestellt hatte. Er trug uralte Kleider, denn er war gerade mit seinem Jäger durch die Hundezwinger gegangen und hatte sich nur die Zeit genommen, den Hundegeruch von den Händen zu waschen, bevor er Aravis zur Begrüßung die Hand schüttelte.
„Kleines Fräulein“, sagte er, „wir heißen dich herzlich willkommen. Wäre meine liebe Frau noch am Leben, so fiele die Begrüßung vielleicht festlicher aus, aber sie kommt auch so aus ganzem Herzen. Es tut mir leid, daß du so viel Pech hattest und aus dem Haus deines Vaters vertrieben wurdest, was dir sicher viel Kummer bereitet. Mein Sohn Cor hat mir von euren gemeinsamen Abenteuern und von deinem Mut erzählt.“
„Er ist es, der Mut hat, Herr“, sagte Aravis. „Er hat sich ja sogar auf den Löwen gestürzt, um mich zu retten.“
„Was sagst du da?“ rief König Lune entzückt. „Diese Geschichte habe ich noch nicht gehört.“
Aravis erzählte ihm alles, was Cor aus Bescheidenheit bisher verschwiegen hatte, und der König freute sich darüber, wie sich ein stolzer Vater nur über seinen Sohn freuen kann.
Dann wandte sich der König zu Hwin und Bree. Er behandelte auch sie mit aller Höflichkeit und stellte ihnen viele Fragen über ihre Familie und wo sie gelebt hatten, bevor sie aus Narnia entführt worden waren. Die Pferde waren sehr befangen, denn sie waren nicht daran gewöhnt, daß Menschen mit ihnen sprachen wie mit ihresgleichen.
Kurz darauf kam Königin Lucy aus dem Schloß und gesellte sich zu ihnen. König Lune sagte zu Aravis: „Meine Liebe, das ist eine Freundin unseres Hauses. Sie hat dafür gesorgt, daß deine Gemächer hergerichtet werden, besser, als ich das gekonnt hätte.“
„Willst du mitkommen und sie anschauen?“ fragte Lucy und gab Aravis einen Kuß. Die beiden mochten sich sofort. Sie gingen miteinander ins Schloß, als wären sie schon immer die besten Freundinnen.
Nach dem Mittagessen, das sie auf der Terrasse einnahmen – es gab kaltes Geflügel, kalte Wildbretpastete, Wein, Brot und Käse –, runzelte König Lune die Stirn, seufzte tief auf und sagte: „Ach herrje! Wir haben immer noch diesen schrecklichen Rabadash hier, und wir müssen nun einen Entschluß fassen, was wir mit ihm machen wollen.“
Lucy und Aravis saßen rechts und links vom König, Dar und Peridan und Cor und Corin ihnen gegenüber. Am einen Ende des Tisches saß König Edmund, am anderen Lord Darrin.
„Wenn wir diesen Rabadash töten, kommt dies einer Kriegserklärung an den Tisroc gleich“, meinte Edmund.
„Zum Teufel mit dem Tisroc“, entgegnete König Lune. „Seine Stärke liegt in der Größe seiner Streitmacht. Einem großen Heer wird es jedoch nie gelingen, die Wüste zu durchqueren. Aber es liegt mir nicht, einen Menschen vorsätzlich zu töten, mag er auch ein Verräter sein. Es wäre mir eine Freude gewesen, ihm in der Schlacht die Kehle durchzuschneiden. Aber jetzt sieht die Sache anders aus.“
„Mein Vorschlag wäre, ihm noch eine Chance zu geben“, sagte Lucy. „Laßt ihn frei, wenn er verspricht, sich in Zukunft fair zu verhalten. Vielleicht hält er dann sein Wort.“
„Genausogut kann man von einem Affen verlangen, ehrlich zu werden, Schwester“, sagte Edmund. „Aber beim Löwen – wenn Rabadash sein Wort brechen sollte, dann hat er seinen Kopf verwirkt!“
„Wir werden es versuchen“, sagte der König und ließ nach dem Gefangenen schicken.
Rabadash wurde in Ketten vorgeführt. Man hätte meinen können, er habe die Nacht ohne Nahrung und ohne Wasser in einem entsetzlichen Kerker verbracht. In Wirklichkeit hatte man ihn in einem recht bequemen Zimmer eingeschlossen und ihm ein ausgezeichnetes Abendessen gebracht. Aber da er sich in seiner Wut geweigert hatte, das Essen anzurühren, und da er die ganze Nacht damit verbracht hatte herumzustampfen, zu brüllen und zu fluchen, sah er natürlich nicht besonders gut aus.
„Eure königliche Hoheit müssen wissen“, sagte König Lune, „daß wir nach dem Gesetz der Nationen sowie nach allen Regeln des gesunden Menschenverstandes ein Recht auf Euren Kopf hätten, wenn jemals ein Mensch das Recht auf den Kopf eines anderen hatte. Nichtsdestotrotz, in Anbetracht Eurer Jugend und in Anbetracht Eurer schlechten Erziehung in diesem Land der Tyrannen sind wir geneigt, Euch freizulassen, und zwar unter folgenden Bedingungen: Erstens, daß ...“
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