„So, Fremder“, sagte Duffel. „Jetzt erkläre ich dir erst einmal die Gegend. Von hier aus kannst du fast ganz Südnarnia sehen, und wir sind sehr stolz auf unsere Aussicht. Gleich da drüben zu unserer Linken, hinter den nahen Hügeln, siehst du die westlichen Berge. Und der runde Hügel da drüben zu deiner Rechten wird der Steintischhügel genannt. Gleich dahinter ... “
Aber da wurde er von Shastas Schnarchen unterbrochen, der jetzt, nach seinem nächtlichen Ritt und dem ausgezeichneten Frühstück, fest eingeschlafen war.
Er verschlief fast den ganzen Tag, doch gerade rechtzeitig zum Abendessen wachte er wieder auf. Die Betten im Haus waren zu klein für ihn, aber die Zwerge richteten ihm auf dem Fußboden ein schönes Lager aus Heidekraut, und so rührte er sich die ganze Nacht über nicht und schlief traumlos bis zum Morgen.
Sie waren gerade mit dem Frühstück fertig, als sie von draußen einen lauten, hellen Ton hörten.
„Trompeten!“ verkündeten die Zwerge, während sie mit Shasta zusammen hinausrannten.
Wieder schmetterten die Trompeten: für Shasta ein neuer, unbekannter Klang – nicht dunkel und feierlich wie die Hörner in Tashbaan, auch nicht unbeschwert und fröhlich wie das Jagdhorn König Lunes, sondern klar, durchdringend und kräftig. Der Klang erschallte aus den Wäldern im Osten, und schon bald vermischte er sich mit Hufgetrappel. Einen Augenblick später kam die Spitze des Zuges in Sicht. Voran ritt Lord Peridan auf einem Braunen. Er trug das Banner Narnias – ein roter Löwe auf grünem Grund. Shasta erkannte ihn sofort. Dahinter kamen drei Reiter, die auf zwei kräftigen Pferden und einem Pony Seite an Seite ritten. Auf den Streitrössern saßen König Edmund und eine blonde, fröhlich aussehende Dame. Sie hatte einen Helm auf, trug ein Kettenhemd, über ihrer Schulter hing ein Bogen und an ihrer Seite ein Köcher mit Pfeilen. „Das ist Königin Lucy“, flüsterte Duffel. Auf dem Pony saß Corin. Dahinter kamen die anderen: Männer auf gewöhnlichen Pferden, Männer auf sprechenden Pferden – bei besonderen Gelegenheiten macht es ihnen nichts aus, einen Reiter zu tragen –, Zentauren, grimmig aussehende Bären und riesige sprechende Hunde. Ganz am Schluß kamen noch sechs Riesen – freundliche narnianische Riesen. Trotzdem wagte Shasta zuerst kaum, sie anzusehen; es gibt Dinge, an die man sich erst nach und nach gewöhnen muß.
Als der König und die Königin bei der Hütte ankamen, wo die Zwerge sich tief vor ihnen verbeugten, rief König Edmund: „So, Freunde! Es ist Zeit für eine kleine Rast und eine Stärkung!“ Das ließ sich niemand zweimal sagen. Alle stiegen vom Pferd, machten es sich bequem und öffneten ihre Rucksäcke.
Corin kam angerannt, ergriff Shasta an beiden Händen und rief: „Was! Du bist auch hier? Du hast es also geschafft? Das freut mich aber! Jetzt werden wir Spaß miteinander haben! Stell dir vor: Wir sind erst gestern morgen im Hafen von Feeneden eingelaufen, und der erste, den wir trafen, war Samtauge, der Hirsch. Er berichtete, Anvard sei angegriffen worden. Meinst du nicht ... “
„Wer ist dieser Freund von dir, Hoheit?“ fragte König Edmund, der eben vom Pferd gestiegen war.
„Seht Ihr das nicht, hoher Herr?“ fragte Corin. „Es ist mein Doppelgänger, der Junge, den Ihr in Tashbaan mit mir verwechselt habt.“
„Tatsächlich! Er ist ein Doppelgänger von dir!“ rief Königin Lucy. „Ihr seht euch so ähnlich, als wäret ihr Zwillinge. Phantastisch!“
„Bitte, Eure Majestät“, sagte Shasta zu König Edmund. „Ich war kein Verräter, wirklich nicht. Ich konnte nichts dafür, daß ich Eure Pläne mit anhören mußte. Aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, sie Euren Feinden zu verraten.“
„Ich weiß jetzt, daß du kein Verräter warst, Junge“, sagte König Edmund. Er legte die Hand auf seinen Kopf. „Aber wenn du nicht willst, daß man dich für einen Verräter hält, dann solltest du nächstes Mal versuchen, keine solchen Dinge mit anzuhören, die für anderer Leute Ohren bestimmt sind. Aber nun ist alles gut.“
In dem ganzen Trubel, dem Gerede und dem ständigen Kommen und Gehen, verlor Shasta Corin, Edmund und Lucy minutenlang aus den Augen, bis er König Edmund mit lauter Stimme sagen hörte: „Bei der Mähne des Löwen, Prinz – das ist zuviel! Willst du denn nie Vernunft annehmen? Du bist eine größere Plage als unser ganzes Heer zusammengenommen! Ich würde lieber ein Heer von Hornissen befehligen als ausgerechnet dich!“
Was war geschehen?
Nachdem Corin mit Shasta gesprochen hatte, war ein Zwerg namens Dorneich hergekommen und hatte Corin am Ellbogen gezupft.
„Was ist los, Dorneich?“ hatte Corin gefragt.
„Königliche Hoheit“, sagte Dorneich und zog Corin etwas zur Seite. „Unser heutiger Marsch wird uns über den Paß und geradewegs zum Schloß Eures königlichen Vaters führen. Es ist möglich, daß wir noch vor morgen abend kämpfen werden.“
„Ich weiß“, entgegnete Corin. „Ist das nicht phantastisch?“
„Ob phantastisch oder nicht“, entgegnete Dorneich. „Ich habe strikte Anweisung von König Edmund, darauf zu achten, daß Eure Hoheit nicht an der Schlacht teilnimmt. Ihr dürft sie Euch ansehen, und in Anbetracht Eurer Jugend ist das schon mehr als genug.“
„Was für ein Unsinn!“ platzte Corin heraus. „Natürlich werde ich kämpfen. Königin Lucy macht ja auch bei den Bogenschützen mit.“
„Ihre Gnaden die Königin kann tun und lassen, was sie will“, entgegnete Dorneich. „Aber für Euch bin ich verantwortlich. Entweder gebt Ihr mir Euer Ehrenwort, daß Ihr neben mir herreitet – und zwar genau neben mir und nicht eine Pferdehalslänge voraus –, bis ich Euch erlaube, Euch zu entfernen. Oder aber – und dies sind die Worte Seiner Majestät – müssen wir wie zwei Gefangene mit aneinandergefesselten Handgelenken reiten.“
„Ich schlag’ dich nieder, wenn du versuchst, mich zu binden“, erklärte Corin.
„Das würde ich gerne sehen“, gab der Zwerg zurück.
Das genügte für einen Jungen wie Corin. Im Nu lagen sich die beiden in den Haaren. Eigentlich waren die zwei sich ja ebenbürtig. Corin war zwar größer und hatte längere Arme, doch der Zwerg war älter und zäher. Aber es kam gar nicht zum Zweikampf. Dorneich hatte das ausgesprochene Pech, auf einen losen Stein zu treten – und fiel platt auf den Bauch. Als er aufstehen wollte, merkte er, daß er sich den Knöchel verrenkt hatte.
„Sieh nur, was du angerichtet hast, Hoheit!“ sagte König Edmund. „Ausgerechnet jetzt, kurz vor der Schlacht, hast du einen bewährten Krieger kampfunfähig gemacht.“
„Ich werde seinen Platz einnehmen“, entgegnete Corin.
„Pah!“ sagte Edmund. „Keiner zweifelt an deinem Mut. Aber in einer Schlacht ist ein Junge wie du nur für seine eigenen Leute gefährlich.“
In diesem Augenblick wurde der König gerufen, um sich um eine andere Angelegenheit zu kümmern. Corin entschuldigte sich bei dem Zwerg, dann kam er zu Shasta herübergerannt und flüsterte: „Rasch! Hier ist jetzt ein Pony, das keiner braucht, und Dorneichs Rüstung. Zieh sie an, bevor es einer merkt!“
„Aber wozu?“ fragte Shasta.
„Damit wir zusammen in die Schlacht reiten können, natürlich. Willst du das denn nicht?“
„Oh – ah, ja, natürlich.“ Aber Shasta hatte das eigentlich nicht vorgehabt, und jetzt wurde ihm ziemlich flau in der Magengegend.
„So ist’s recht“, sagte Corin. „Zieh sie über den Kopf. Und jetzt den Riemen für das Schwert. Aber wir müssen ganz hinten reiten und uns mucksmäuschenstill verhalten. Wenn die Schlacht erst einmal angefangen hat, sind alle so beschäftigt, daß uns keiner mehr bemerkt.“
13. Die Schlacht in Anvard
Gegen elf Uhr hatte sich die ganze Kompanie wieder in Marsch gesetzt. Sie ritten nach Westen. Zu ihrer Linken lagen die Berge. Corin und Shasta ritten als Nachhut, gleich hinter den Riesen. Lucy, Edmund und Peridan waren damit beschäftigt, Schlachtpläne zu schmieden. Lucy sagte zwar einmal: „Wo ist eigentlich dieser Tunichtgut, Hoheit?“ Doch Edmund entgegnete nur: „Zumindest ist er nicht vorne an der Spitze, und darüber sollten wir schon froh sein.“
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