„Zu Fuß?“ fragte der Edelmann und hob die Augenbrauen.
„Die Pferde sind beim Einsiedler“, erklärte Shasta.
„Befrage ihn nicht weiter, Darrin“, gebot König Lune. „Ich sehe in seinem Gesicht, daß er die Wahrheit spricht. Wir müssen uns rasch auf den Weg machen, meine Herren. Bringt ein Pferd für den Jungen. Kannst du schnell reiten, mein Freund?“
Als Antwort schwang Shasta seinen Fuß in den Steigbügel des Pferdes, das man ihm gebracht hatte, und einen Augenblick später saß er im Sattel. Er freute sich, als er hörte, wie Lord Darrin zum König sagte: „Der Junge sitzt im Sattel wie ein wahrer Reiter. Ich möchte wetten, in seinen Adern fließt edles Blut.“
„Ja – sein Blut – das ist es, wonach ich mich frage“, sagte der König. Er starrte Shasta noch einmal durchdringend an, und in seinen ruhigen grauen Augen lag ein eigenartiger, fast möchte man sagen begehrlicher Ausdruck.
Jetzt galoppierten alle los. Shasta saß zwar ausgezeichnet im Sattel, aber er hatte leider keine Ahnung, was er mit den Zügeln anstellen sollte, denn die hatte er nie angerührt, während er auf Brees Rücken saß. Aber er blickte aus den Augenwinkeln heraus vorsichtig um sich, wie es die anderen machten. Er versuchte die Zügel richtig zu halten, aber er wagte es nicht, das Pferd wirklich zu lenken. Er hoffte, es möge den anderen folgen. Es war natürlich kein sprechendes Pferd, sondern ein ganz gewöhnliches. Aber es war klug genug zu merken, daß dieser komische Junge auf seinem Rücken weder Peitsche noch Sporen besaß und daß er die Situation ganz und gar nicht im Griff hatte. Deshalb fand sich Shasta schon nach kurzer Zeit ganz am Ende des Zuges wieder.
Trotzdem ging es noch immer recht schnell voran. Die Fliegen waren jetzt verschwunden, und die Luft, die Shastas Gesicht umstrich, war köstlich. Jetzt konnte er auch wieder ruhig atmen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Tashbaan – wie lange das schon zurückzuliegen schien! – fühlte er sich wieder wohl.
Er schaute auf, ob sich die Gipfel der Berge schon genähert hatten. Doch zu seiner großen Enttäuschung konnte er sie überhaupt nicht mehr sehen: eine nebelartige graue Wand kam auf ihn zugerollt. Er war noch nie im Gebirge gewesen, und so war er sehr überrascht. Es ist eine Wolke, sagte er sich. Eine Wolke, die zu uns herunterzieht. Ich verstehe. Hier oben in den Hügeln ist man auf gleicher Höhe mit den Wolken. Gleich werde ich sehen, wie es im Innern einer Wolke aussieht. Wie schön! Das wollte ich schon immer wissen. Weit zu seiner Linken ging eben die Sonne unter.
Inzwischen waren sie auf einem holprigen Weg angekommen, und der Ritt wurde immer schneller. Shastas Pferd galoppierte noch immer ganz hinten. Ein- oder zweimal verlor Shasta die anderen an einer Wegbiegung aus den Augen, links und rechts war der Weg jetzt von dichtem Wald gesäumt.
Dann tauchten sie in den Nebel ein. Oder vielleicht zog der Nebel auch auf sie zu und umhüllte sie. Die Welt wurde grau. Shasta hatte sich das Innere einer Wolke nicht so kalt und naß vorgestellt – und auch nicht so dunkel.
An der Spitze des Zuges blies jemand von Zeit zu Zeit das Horn, und jedesmal schien es von weiter her zu kommen. Shasta konnte keinen der anderen mehr sehen, doch ganz bestimmt mußten sie wieder vor ihm auftauchen, sobald er um die nächste Biegung kam. Aber auch da konnte er sie nicht sehen. Ja – er sah überhaupt nichts mehr. Sein Pferd ging nun im Schritt. „Lauf, Pferd, lauf!“ flehte Shasta. Gerade erklang aus weiter Ferne das Horn. Bree hatte Shasta immer befohlen, die Fersen nach außen zu drehen, und so war Shasta der Meinung, etwas ganz Schreckliches müsse passieren, sobald er dem Pferd die Fersen in die Flanken preßte. Jetzt schien die richtige Gelegenheit gekommen zu sein, das einmal auszuprobieren. „Hör mal zu, Pferd!“ sagte er. „Weißt du, was ich tun werde, wenn du dich nicht zusammenreißt? Ich werde dir die Fersen in die Flanken pressen. Ja, das tu ich!“ Doch das Pferd reagierte nicht auf seine Drohung. Also setzte sich Shasta im Sattel zurecht, klammerte sich mit den Knien fest, preßte die Zähne fest aufeinander und bohrte dem Pferd die Fersen in die Flanken, so fest er nur konnte.
Ein paar Sekunden lang fiel das Pferd in eine Art Trab, doch dann lief es wieder im Schritt. Inzwischen war es ganz dunkel, und die Männer schienen es aufgegeben zu haben, das Horn zu blasen. Nur der gleichmäßige Hufschlag und das Tropfen der Zweige waren zu hören.
Na ja, auch wenn wir im Schritt gehen, werden wir irgendwann einmal irgendwo ankommen, sagte sich Shasta. Ich hoffe nur, daß ich nicht Rabadash und seinen Leuten begegne.
So trotteten sie scheinbar endlos lange im Schritt weiter. Shasta begann das Pferd zu hassen. Außerdem wurde er langsam hungrig.
Schließlich kam er zu einer Stelle, wo sich der Weg gabelte. Er überlegte noch, welcher der beiden Wege wohl nach Anvard führen mochte, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Es war das Geräusch von trabenden Pferden, und Shasta erschrak. Das ist Rabadash! dachte er. Er hatte keine Ahnung, welchen Weg Rabadash einschlagen würde. Wenn ich in die eine Richtung gehe, sagte er sich, dann geht Rabadash ja vielleicht in die andere. Wenn ich aber hier an der Kreuzung stehenbleibe, dann erwischen sie mich ganz bestimmt. Also saß er ab und führte sein Pferd so rasch wie möglich nach rechts.
Das Klappern der Pferdehufe kam immer näher, und wenig später war klar, daß die Reiter an der Kreuzung angekommen waren. Shasta hielt den Atem an und wartete, welchen Weg sie einschlagen würden.
Ein leises „Halt!“ erklang; dann hörte man eine kleine Weile nur Pferdegeräusche – Schnauben, scharrende Hufe, mahlende Zähne, das Tätscheln von Pferdenacken. Dann wieder eine menschliche Stimme.
„Hört alle her! Wir sind jetzt eine Achtelmeile vom Schloß entfernt. Denkt an die Befehle, die ich euch gegeben habe. Wenn wir in Narnia ankommen – vermutlich morgen bei Sonnenaufgang –, soll so wenig Blut wie nur irgend möglich vergossen werden. Aber wir sind noch nicht in Narnia! Hier in Archenland ist die Lage anders. Bei unserem Angriff auf das Schloß von König Lune zählt nur eines: schnell muß es gehen! Das Schloß muß innerhalb einer Stunde in meiner Hand sein. Wenn dies gelingt, so sei alles dort euer. Ich beanspruche von der Beute nichts für mich. Im Namen von Tash dem Unwiderstehlichen und Unerbittlichen – vorwärts, marsch!“
Das Heer setzte sich mit lautem Hufgeklapper in Bewegung, und Shasta atmete auf. Die Männer hatten den anderen Weg eingeschlagen.
Shasta wunderte sich, wie lange es dauerte, bis alle vorübergetrabt waren. Ihm war nicht klar gewesen, wieviel zweihundert Pferde tatsächlich waren. Endlich verklang das Hufgetrappel, und nun stand er wieder allein zwischen den tropfenden Bäumen.
Nun wußte er, in welcher Richtung Anvard lag. Aber dorthin konnte er jetzt natürlich nicht mehr – wollte er nicht Rabadashs Soldaten geradewegs in die Arme laufen.
In der Hoffnung, auf eine Hütte zu stoßen, wo er um ein Nachtlager und eine Mahlzeit bitten konnte, stieg Shasta wieder aufs Pferd und ritt auf dem eingeschlagenen Weg weiter. Er hatte natürlich auch daran gedacht, zurück in die Einsiedelei zu Aravis, Bree und Hwin zu reiten, aber er hatte keine Ahnung mehr, in welcher Richtung diese lag.
Na ja, sagte sich Shasta. Irgendwo muß dieser Weg ja schließlich hinführen.
Aber vorläufig führte der Weg nur von einem Baum zum anderen, und jeder einzelne Baum war dunkel und tropfte. Auch die Luft wurde immer kälter. Ein eisiger Wind blies die Nebelschwaden an Shasta vorbei, doch der Nebel nahm deshalb nicht ab. Wenn Shasta Gebirgserfahrung gehabt hätte wäre ihm klar geworden, daß er sich in großer Höhe befand – ja, vielleicht war er schon auf der Paßhöhe angelangt. Aber mit Bergen kannte sich Shasta nicht aus.
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