Sie konnte es nirgends sehen. Nur das leise, hohe Wimmern war noch zu hören. Doch nun schien es ihr weniger ein wimmerndes Miauen zu sein, sondern mehr ein Stöhnen.
Kathryn kämpfte einen Impuls nieder, ins Haus zu rennen und die Tür hinter sich abzusperren. Vielleicht lag ein Verletzter dort draußen. Ein Autounfall? Sie hatte nichts gehört, aber das besagte wenig; ihr Schlafzimmer lag nicht an der Straßenseite. Wachsam blickte sie umher, vom Nachbarhaus zu ihrer Linken bis zur leeren Wüste zu ihrer Rechten. Sie machte ein paar zögernde Schritte.
Plötzlich sah sie den Mann, der kaum zehn Meter von ihr entfernt auf der sandigen Erde lag.
Er lag etwas gekrümmt auf der Seite und hatte sein Gesicht ihr zugekehrt. Er trug eine Art Fliegerkombination. Das Glas vor seinem Gesicht war gesprungen und hing halb offen. Kathryn sah Blut in seinem Gesicht. Seine Augen waren geschlossen, und er stöhnte immer wieder leise, ohne sich jedoch zu bewegen. Neben ihm lagen drei oder vier schimmernde Metalldinger, Werkzeuge irgendwelcher Art, die offenbar aus den Taschen seines Anzugs gefallen waren.
Sie mußte an den Feuerball denken, den sie ein paar Stunden zuvor gesehen hatte. Nur ein Meteor? Oder war es in Wirklichkeit doch eine explodierende Maschine gewesen, und dieser Mann hier einer der Überlebenden?
Kathryn lief zu ihm. Als sie näherkam, regte er sich ein wenig, doch seine Augen blieben geschlossen.
Sie kauerte neben ihm nieder. Es war schwierig zu sagen, wie schwer seine Verletzungen waren. Er schien ziemlich jung zu sein — dreißig oder so — und starke Schmerzen zu haben. Und er war sehr hübsch. Kathryn war über die Intensität ihrer Reaktion auf sein gutes Aussehen erschrocken. Sie fühlte sich im Griff einer plötzlichen sexuellen Anziehungskraft, und das verwirrte sie. Sie beugte sich vor, um ihn näher zu untersuchen.
Sein Gesicht war blutig. Ich müßte die Polizei rufen, dachte sie, oder einen Krankenwagen.
Aber sie tat es nicht. Sie wollte nicht, daß irgendwelche Behörden sich in diese Sache einmischten. Es war Nacht, und sie wollte kein Aufhebens. Vorsichtig steckte sie ihre Hand in den offenen Helm und berührte die Wange des Verletzten. Fiebrig. Aber kein Schweiß. Warum das? Sie hob eines der Augenlider, und ein graues Auge blickte sie an. Das Lid klappte wieder herunter, als sie es losließ, und der Mann zuckte und stöhnte. In seinem Stöhnen wurden jetzt Worte hörbar, aber sie blieben Kathryn unverständlich. War das irgendeine fremde Sprache, oder babbelte er im Delirium seiner Schmerzen? Sie bemühte sich, wenigstens einzelne Worte zu verstehen, aber ohne Erfolg.
Der Wind pfiff und blies ihr Staub ins Gesicht. Kathryn blickte auf, von der Befürchtung geplagt, ihre Nachbarn könnten sie hinter den Fenstern beobachten. Aber alles war still. Sie wunderte sich über ihr Verhalten diesem ungebetenen Besucher gegenüber. Etwas in ihr verlangte, daß sie ihn beschützte und ins Haus bringe. Aber das war Unsinn. Er war ein Fremder, und sie fürchtete Fremde. Schließlich gab es Krankenhäuser. Sie hatte mit diesem Mann nichts zu schaffen, der aus dem Himmel gefallen und der womöglich Agent eines kommunistischen Landes war. Wie hatte sie nur erwägen können, ihn ins Haus zu bringen?
Sie betastete das nahtlos verarbeitete Material seines Anzugs, hob die Werkzeuge auf. Eins sah wie eine Taschenlampe aus, eine Stablampe mit einem Knauf an einem Ende. Sie befingerte ihn neugierig und bekam einen tödlichen Schreck, als ein scharf gebündelter weißer Lichtstrahl herausschoß, einen Moment mit der Reflexbewegung ihrer Hand durch die Nacht fuhr und über einen Ast eines nahen Baumes wischte. Der Ast fiel krachend auf die Erde. Kathryn ließ das kleine Metallrohr fallen, als hätte sie sich die Finger daran verbrannt. Was war das? Eine Art von Hand-Laser? Ein Hitzestrahl?
Wo kommt dieser Mann her?
Sie hatte keine Ahnung, wozu die anderen Werkzeuge dienten, aber auf einmal kamen sie ihr unglaublich fremdartig vor, wie Dinge von einer anderen Welt. Sie erschauerte. Diese nächtliche Begegnung begann einen unwirklichen Charakter anzunehmen.
Sie wußte, daß sie ihn ins Haus schaffen, ihm die Fliegerkombination ausziehen und nachsehen mußte, was ihm fehlte. Es erschien ihr wenig wahrscheinlich, daß dieser Verletzte eine Bedrohung für sie oder ihr Kind darstellte. Letztes Jahr war in Syrien ein Mann vom Himmel gefallen, wie dieser hier. Ihr Mann, Ted. War er noch lebend unten angekommen? Hatte jemand ihm geholfen? Oder hatten sie ihn in der Wüste liegenlassen, bis er umgekommen war? Kathryn fragte sich, wie sie ihn hineinschaffen sollte. Verletzte sollte man überhaupt nicht bewegen, aber es war nicht weit. Konnte sie ihn heben?
Sie schob einen Arm unter seinen Nacken, den anderen unter seine Knie. Sie wollte ihn nicht aufheben, nur sehen, wie er reagierte. Zu ihrer Bestürzung fand sie, daß er unwahrscheinlich leicht war. Obwohl er die Größe eines ausgewachsenen Mannes hatte, schien er nicht mehr als siebzig oder achtzig Pfund zu wiegen. Ohne sich ganz bewußt zu werden, was sie tat, stand Kathryn auf und hielt ihn auf den Armen. Es kostete sie Anstrengung, war aber nicht unerträglich. Sie trug ihn zum Haus, stieß die angelehnte Tür auf und legte ihn schnaufend auf den einzigen geeigneten Platz — ihr Bett, das große Doppelbett, das sie sechs Jahre lang mit einem Mann geteilt hatte, der jetzt nur noch eine verblassende Erinnerung war. Der Verletzte stöhnte wieder und murmelte in seiner fremden Sprache, aber er wachte nicht auf. Auch schien der Transport ihm nicht geschadet zu haben. Kathryn stürzte zurück und verschloß die Tür, zog den Vorhang zu. Ihr Herz pochte. Sie war verwirrt. Was nun?
Sie rannte hinaus und spähte ins Schlafzimmer ihrer Tochter. Jill schlief fest. Nun ins Bad. Sie riß das Medizinschränkchen auf und nahm beinahe wahllos heraus, was ihr in die Hände kam: Bandagen, eine Schere, Heftpflaster, Heilsalbe, antiseptische Tinktur, eine Flasche Schmerzbetäuber und sieben oder acht andere Dinge. Alles das stopfte sie in die Taschen ihres Morgenmantels, dann raste sie zurück. Der Mann auf ihrem Bett hatte sich noch nicht bewegt. Zuerst mußte sie diesen Anzug herunterbekommen. Sie suchte nach einem Reißverschluß, nach Schnallen oder Knöpfen. Sie konnte nichts finden. Das Material war glatt, der Anzug war aus einem Stück geschweißt. Kathryn nahm eine Falte zwischen zwei Finger und versuchte sie zu schneiden, doch der Stoff widerstand der Schere, als ob er aus Stahldraht gewebt wäre. Sie wagte nicht, den Verletzten auf den Bauch zu wälzen, um auf der anderen Seite nach einem Reißverschluß zu suchen.
Sie besprühte sein Gesicht mit Kölnisch Wasser von ihrem Toilettentisch, und er regte sich. »Glair?« sagte er deutlich. »Glair?«
»Rühren Sie sich nicht. Es ist alles in Ordnung. Bleiben Sie still liegen und lassen Sie sich helfen.«
Er wurde wieder ruhig. Kathryn fummelte mit wachsender Besorgnis an seinem Anzug herum. Das Ding lag wie eine zweite Haut an seinem Körper, und sie war schon am Verzweifeln, als sie endlich einen winzigen Knopf unter dem Kinn des Mannes entdeckte. Drücken nützte nichts, aber als sie ihn behutsam nach links drehte, schien etwas unter der Oberfläche des Anzugs nachzugeben, und dann öffnete er sich von selbst, spaltete sich in gerader Linie entlang einer unsichtbaren Naht von Kopf bis Fuß. Sie brauchte die Teile nur noch zurückzuschlagen.
Der Mann trug darunter lediglich eine gummiartige gelbe Umwicklung, die Unterleib und Hüften bedeckte. Sein Körper war schlank, sehr bleich, haarlos und… schön. Das Wort drängte sich ungebeten in Kathryns Bewußtsein. Es ging eine fast feminine Schönheit von ihm aus; seine Haut war glatt und fast durchsichtig. Zugleich aber war er unleugbar männlich. Unter der Elfenbeinhaut lagen kräftige Muskeln. Seine Schultern waren breit, die Hüften schmal, Bauch und Brustkorb flach und fest. Er hätte eine zum Leben erwachte griechische Statue sein können.
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