Robert Silverberg
Bruderschaft der Unsterblichen
Ist The Book of Skulls (Bruderschaft der Unsterblichen) wirklich Science Fiction? Diese Definitionsprobleme haben mich immer beschäftigt. Als Herausgeber weise ich häufig Geschichten aus dem Grund zurück, daß sie nicht in meine Definition von Science Fiction passen, wie immer die im jeweiligen Moment auch aussehen mag. Als Schriftsteller habe ich oft die Definition mal enger und mal freier gehandhabt. Ich glaube zu wissen, was Science Fiction ist — wie Damon Knight einmal sagte, ist alles Science Fiction, was wir für solches halten, wenn wir auf etwas hinweisen und sagen, das ist Science Fiction. Ich kann das anhand von Beispielen definieren: Eine Geschichte, in der Roboter vorkommen, ist Science Fiction, eine Geschichte über die Reise zu Planeten ist Science Fiction, eine Geschichte über Zeitmaschinen ist Science Fiction und so weiter und so fort. Aber diese Methode taugt sehr wenig, um überhaupt etwas zu definieren. (Diese Eiche ist ein Baum … dieser Ahorn ist ein Baum … aber ist dieser achtzehn Meter hohe Kaktus ein Baum? Worin liegt die Baumhaftigkeit von Eichen und Ahornen begründet, und inwieweit kann der große Kaktus die gleichen Merkmale aufweisen, und inwieweit kann er das nicht?) Ich kann Science Fiction auch als Erzählweise über die Interaktion zwischen Menschen und Technik definieren und damit ein sehr, sehr großes Gebiet abdecken. Aber dadurch werden Bücher wie mein Dying Inside [1] deutscher Titel: Es stirbt in mir
(da dreht es sich um Telepathie) und Harry Harrisons Make Room! Make Room! [2] dt. Titel: New York 1999
(da dreht es sich um Demographie) ausgeschlossen. Ich kann auch, und ich tue das manchmal, auf die Bemerkung zurückkommen, daß Science Fiction als eine bestimmte Gattung der Fremdartigkeit definiert wird, als ein Element des Unwirklichen, des Phantastischen; aber wie hinfällig eine solche Definition ist, sieht man schon daran, daß darunter auch Alice im Wunderland gefaßt werden kann; und die Mensch-und-Technik-Definition greift auch auf den Arrowsmith über. Ich halte weder Alice im Wunderland für Science Fiction, noch würde ich zugeben, daß Arrowsmith diesem Genre zugehört. Aber The Book of Skulls …
Es handelt sich hier um einen Roman, der Anfang der siebziger Jahre in den USA spielt. Die Erzähler sind vier amerikanische Jungen vom College, die während der Osterferien wegfahren. Daran ist ja nun nichts SF-artiges; aber es gibt auch in der ersten Stunde oder so von King Kong nichts SF-artiges, doch ganz sicher entpuppt sich King Kong als Science Fiction, sobald erst einmal der Riesenaffe die Leinwand betreten hat. Eines Tages gelangen die vier Jungen aus The Book of Skulls nach Arizona, wo sie auf die Suche nach dem Geheimnis des ewigen Lebens gehen; und gerade die Unsterblichkeit ist ganz ohne Zweifel eines der klassischen Science-Fiction-Themen. In diesem zweiten Teil des Buches habe ich festgelegt, daß es genau das ist, was sie suchen. Und vielleicht reicht das allein schon aus, um das Buch als SF zu qualifizieren. Ganz sicher nämlich gehört die Frage nach der Unsterblichkeit ganz grundsätzlich zur SF, ob die Charaktere sie nun erlangen oder nicht.
Und dennoch und trotzdem — ich fürchte, das ist die Crux an der ganzen Sache —, das Buch hört sich nicht nach Science Fiction an. Wo ist die simple, nur funktionale Prosa aus John Campbells großem alten Magazin Astounding geblieben, in dem so viele unserer SF-Klassiker geboren wurden? Die Jungen im Roman reden von Drogen und Sergeant Pepper, von Joyce und Kierkegaard, von Sex, sowohl dem der Normalen wie auch dem der Schwulen, davon, wie es in den Clubs der WASPs [3] WASP = White AngloSaxon Protestant; volkstümliche Bezeichnung und Schimpfname für die weiße Oberschicht in den USA.
zugeht; und von lauten Bar Mitzwahs und von allen möglichen Dingen, die in Astounding nie erwähnt wurden. Wo ist der hagere, grauäugige Kimball Kinnison, der Lensman aus der zweiten Generation? Wo ist Gilbert Gosseyn mit dem mannigfaltigen Verstand? Wo ist Captain Kirk? Was ich schreibe, hört sich doch stark danach an, als wäre es auf das offiziöse Literaturgeschehen abgestimmt, nicht wahr? Keine Raumschiffe, keine Roboter, keine Zeitmaschinen, keine galaktischen Imperien, nichts von der üblichen Staffage und Handlung jener Geschichten, die uns alle vor so langer Zeit nach der SF süchtig werden ließen.
Aber dennoch … Unsterblichkeit …
Stimmt das? Was ist mit diesen Mönchen in der Wüste in Arizona? Leben sie wirklich seit den Tagen von Lascaux, seit der Zeit von Atlantis? Falls das stimmt, dann muß das Buch Science Fiction sein, und zwar nach jedermanns Definition; ohne die Staffage und den Handlungsbau zu beachten; ein Roman, in dem fünfundzwanzigtausend Jahre alte Männer herumlaufen, muß ganz einfach Science Fiction sein, richtig? Richtig. Außer natürlich, diese steinalten Männer erlauben sich einen Schabernack, und diese Möglichkeit ist ja nicht auszuschließen. Ist der Roman also Science Fiction?
Ich weiß es nicht. Es kommt eben darauf an, ob der Leser, wie Eli, Ned, Oliver und Timothy, die Geschichte der Brüder ohne handfesten Beweis akzeptiert. Hält der Leser sie für wirkliche Unsterbliche, dann ist das Buch wirkliche Science Fiction. Hält der Leser das Ganze für einen Schabernack eines Kults von Irren, nun, dann entpuppt sich das Buch als eine Art Sozialsatire.
Wie dem auch sei, The Book of Skulls wurde Ende 1970/Anfang 1971 geschrieben. Der vorangegangene Roman war The Second Trip [4] dt. Titel: Der zweite Trip
, der ganz ohne Zweifel Science Fiction ist, und danach habe ich Dying Inside geschrieben, den einige Leute für einen Grenzfall halten. Alle drei Romane haben eine gewisse Gleichzeitigkeit des Gefühls, eine gewisse Annäherung an Mainstream-Literatur, die anderen Romanen von mir, etwa Tower of Glass [5] dt. Titel: Kinder der Retorte
oder The World Inside [6] dt. Titel: Ein glücklicher Tag im Jahr 2381
fehlt. Die Geschichte der Veröffentlichung von The Book of Skulls ist etwas verwickelt; nach dem Vertrag wurde es für New American Library, einem Taschenbuchverlag, geschrieben. Aber in der Zeit zwischen Vertragsabschluß und dem Niederschreiben des Buches kam ich mit dem ehrenwerten alten Buchverlag Charles Scribner & Söhne in Verbindung. Es schien zweckmäßig, das Buch zuerst bei Scribner und dann erst bei NAL erscheinen zu lassen. Und dann versuchte ich mit Unterstützung von Ellen Asher, der Herausgeberin des Taschenbuchverlags, Norbert Slepyan von Scribner und Ted Chichak von der literarischen Agentur Scott Meredith die Sache in die Wege zu leiten; ein Kunststück, das sich als kaum weniger schwierig erwies, als ein Raumschiff zum Neptun zu schicken. Monate voll verzwicktestem Vertragsgerangel folgten. In meinen Akten habe ich einen Brief von Ellen Asher gefunden, datiert vom 20. Januar 1972, der besagt: „Ich glaube, wir nähern uns dem ersten Jahrestag, was die Verhandlungen über The Book of Skulls betrifft. Meinst du, ich soll einen Kuchen backen? Natürlich bist du ja eigentlich selbst daran schuld, wenn du schon ein Buch über die Ewigkeit schreibst …“
Das Durcheinander wurde gelöst, und im Sommer 1972 veröffentlichte Scribner das Buch — es wurde mit Verwirrung aufgenommen: Nicht-SF-Kritiker hielten es für Science Fiction, SF-Kritiker hielten es für Mainstream-Literatur. Dennoch wurde der Roman in diesem Jahr sowohl für den HUGO als auch für den NEBULA nominiert, gleichzeitig mit Dying Inside. Und das sollte eigentlich das Problem begraben, ob es sich nun wirklich bei diesen beiden Büchern um Science Fiction handelt. (Ein Roman, der von Hunderten von Leuten als bester Science-Fiction-Roman des Jahres vorgeschlagen wird, ist, ipso facto, Science Fiction, richtig? Richtig.) Bei der Schlußabstimmung für den HUGO 1972 gelangten beide, Skulls und Dying Inside, nicht auf die ersten Plätze, sondern wurden von drei Romanen geschlagen, deren Wert, sowohl auf Science Fiction bezogen als auch literarisch gesehen, sehr mäßig zu sein schien; das war eine sehr lehrreiche Erfahrung für mich. Unter den Vorschlägen für die NEBULA-Nominierung waren auch einige bessere Bücher, ohne daß dies etwas zu bedeuten hätte, denn wiederum trugen die nämlichen, eher gewöhnlichen Bücher die ersten Plätze davon. Soviel zu demokratischen Prozessen in der amerikanischen Kunst.
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