Robert Silverberg - Der Mann im Labyrinth

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Richard Muller war einst Botschafter der Erde auf Beta Hydri IV. Etwas an seiner Aura, der Ausstrahlung seiner Gehirnwellen, stieß die Fremden derart ab, daß sie ihn veränderten. Mit dem Ergebnis, daß seine Gegenwart für sie erträglich wurde. Und mit einem zweiten Ergebnis: Menschen sind nicht länger fähig, seine Gegenwart zu ertragen. Richard Muller wurde zum einsamsten Menschen des Alls, zu einem Außenseiter, der sich auf einen sterbenden Planeten zurückzog, um sich dort in dem tödlichen Labyrinth einer verlassenen Stadt zu verstecken. Bis eines Tages Menschen von der Erde zu ihm kommen. Sie suchen ihn. Nur er kann ihnen helfen. Denn genau jenes Etwas, das ihn zum Ausgestoßenen gemacht hat, läßt ihn nun zur letzten Hoffnung der menschlichen Rasse werden. Nur er allein ist in der Lage, mit jenen gefährlichen Aliens in Verbindung zu treten, die plötzlich auf der Bildfläche erschienen sind…

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Robert Silverberg

Der Mann im Labyrinth

Eins

1

Mittlerweile kannte Muller das Labyrinth ziemlich genau. Er wußte um seine Todesfallen, seine Schlingen und Täuschungen, seine Fallgruben. Neun Jahre lebte er jetzt hier. Das war lange genug, um sich zurechtzufinden, und es hatte auch gereicht, sich mit der Situation abzufinden, die ihn dazu gezwungen hatte, im Labyrinth Zuflucht zu suchen.

Er bewegte sich immer noch vorsichtig. Drei- oder viermal hatte er erfahren müssen, daß seine Kenntnis des Labyrinths, obwohl grundlegend und ausreichend, noch nicht ganz vollständig war. Mindestens einmal hatte er am Rand der Vernichtung gestanden, und nur sein unwahrscheinliches Glück hatte ihn im letzten Moment zurückfahren lassen, als völlig unerwartet ein Flammenstrahl vor ihm aufgetaucht war und direkt vor ihm ein Strom reiner Energie den Weg zum Kochen gebracht hatte. Muller hatte diesen Flammenstrahl auf seiner Karte vermerkt, ebenso fünfzig weitere. Als er sich durch das Labyrinth mit den Ausmaßen einer Stadt bewegte, wußte er, daß für ihn keine Garantie bestand, nicht auf eine bisher unerfaßte Falle zu stoßen.

Über ihm verdunkelte sich der Himmel. Das tiefe, volle Grün des Spätnachmittags wich der Schwärze der Nacht. Muller hielt auf seiner Jagd einen Moment inne und sah zu dem Sternhimmel hinauf. Selbst der war ihm nun nicht mehr fremd. In den Jahren auf dieser einsamen Welt hatte er sich seine eigenen Sternbilder zusammengestellt; hatte den Himmel nach auffälligen Konstellationen abgesucht, die zu seiner besonders rauhen und bitteren Stimmung paßten. Und jetzt erschienen sie: der Dolch, der Rücken, der Schaft, der Affe, die Kröte. In der Stirn des Affen flimmerte der kleine, trübe Stern, der, wie Muller glaubte, die Sonne der Erde war. Er war sich jedoch nicht sicher, weil er seinen Kartenbehälter vernichtet hatte, nachdem er hier gelandet war. Aber er spürte, dieser kleine Feuerball dort oben mußte die Sonne sein. Der trübe Stern bildete auch das linke Auge der Kröte. Manchmal sagte sich Muller, Sol könne auf dieser neunzig Lichtjahre von der Erde entfernten Welt gar nicht sichtbar sein. Aber dann war er wiederum fest davon überzeugt. Über der Kröte befand sich eine Konstellation, die Muller Libra, die Waage, genannt hatte. Allerdings war diese Waage, wie so manches, arg aus dem Gleichgewicht geraten.

Drei kleine Monde gingen glitzernd auf. Die Welt besaß eine dünne, aber atembare Atmosphäre. Muller achtete schon lange nicht mehr auf den zu hohen Stickstoff- und den zu geringen Sauerstoffgehalt. Auch der Anteil an Kohlendioxid lag etwas zu niedrig, woraus sich unter anderem der Effekt ergab, daß Muller auf dieser Welt kaum jemals gähnen mußte. Aber darüber machte er sich keine Gedanken. Er umfaßte den Kolben seiner Waffe fester und ging auf der Suche nach seinem Abendessen langsam durch die fremde Stadt. Auch das gehörte zu seinem festgelegten Tagesablauf. Einen halben Kilometer weiter hatte er Nahrungsmittelvorräte für ein halbes Jahr in einem strahlungssicheren Schrank gelagert. Trotzdem ging er jede Nacht auf die Jagd, damit er die Lücken in seinem geheimen Lager immer wieder ergänzen konnte. Darüber hinaus war das ein sinnvoller Zeitvertreib. Und er brauchte ein aufgefülltes Lager für den Tag, an dem das Labyrinth ihn verkrüppeln oder lähmen würde. Seine scharfen Augen suchten die verwinkelten Straßen vor ihm ab. Um ihn herum erhoben sich die Mauern, Blenden, Fallen und Täuschungen des Labyrinths, in dem er lebte. Er atmete tief durch. Jedesmal setzte er einen Fuß fest auf den Boden, bevor er den anderen hob. Er sah sich nach allen Richtungen um. Das dreifache Mondlicht zerlegte und teilte seinen Schatten, spaltete ihn in reduplizierte Abbilder, die vor ihm tanzten und sich ausbreiteten.

Der über seinem linken Ohr angebrachte Massedetektor gab ein hochtöniges Geräusch von sich und sagte Muller damit, daß das Gerät die Körperwärme eines Tieres im Bereich zwischen fünfzig und hundert Kilogramm registriert hatte. Er hatte den Detektor auf drei Größenordnungen programmiert. Bei diesem Tier handelte es sich um eines der mittleren, der Lauftierordnung. Die Bandbreite des Detektors reichte von Wesen ab zehn oder zwanzig Kilogramm — Beißtierordnung — bis zu solchen von über fünfhundert Kilogramm —, die in die Kategorie Riesentiere fielen. Die Kleintiere waren angriffslustig und sprangen einem sofort an die Kehle, die Riesenbiester hingegen trampelten alles kurz und klein. Muller jagte nur Tiere aus der mittleren Ebene und mied die anderen.

Nun duckte er sich und hielt die Waffe bereit. Die Tiere, die hier auf Lemnos das Labyrinth durchstreiften, konnten ohne sonderliche Kriegslist erlegt werden. Sie achteten nur auf ihresgleichen. Selbst nach all den Jahren, die Muller schon unter ihnen zugebracht hatte, hatten sie noch nicht begriffen, daß er ein tödlicher Feind war. Offenbar war hier seit Jahrmillionen kein intelligentes Lebewesen mehr auf die Jagd gegangen. Und Muller hatte sie Nacht für Nacht erlegt, ohne ihnen dabei die Chance zu geben, etwas über das Wesen des Menschen zu lernen. Bei der Jagd kam es ihm vor allem darauf an, von einem sicheren Ort mit gutem Überblick aus zuzuschlagen, damit er nicht die Beute eines größeren und gefährlicheren Tieres wurde, während er sich auf sein Opfer konzentrierte. Mit dem an der Ferse seines linken Stiefels befestigten Stoßsporn untersuchte er die Wand hinter sich und versicherte sich auf diese Weise, daß sie sich nicht plötzlich öffnen und ihn verschlingen würde. Aber sie war solide. Sehr gut. Muller trat langsam zurück, bis sein Rücken den kühlen, glatten Stein berührte. Sein linkes Knie ruhte auf dem leicht nachgebenden Pflaster. Er zielte über den Lauf seines Gewehrs. Hier war er sicher. Und er konnte warten. Vielleicht drei Minuten vergingen. Der Massedetektor heulte immer noch leise und deutete an, daß das Tier sich weiterhin in einem Radius von hundert Metern aufhielt. Der Ton wurde immer lauter, je näher die Quelle der Wärmestrahlung kam. Muller hatte keine Eile. Er befand sich an der Seite eines riesigen, von glasartigen, gewölbten Scheidewänden begrenzten Platzes, und alles, was aus diesen schimmernden Bögen hervortrat, würde ein leichtes Ziel sein. Muller jagte heute nacht in der Zone E des Labyrinths, dem fünften Sektor vom Zentrum aus gesehen, einer der gefährlichsten Gegenden. Nur selten verließ er die relativ harmlose Zone D, aber irgendein Teufel hatte ihn in dieser Nacht geritten und in Zone E gelockt. Seit er seinen Weg ins Labyrinth gefunden hatte, hatte er es nie wieder riskiert, Zone G oder H zu betreten. Und erst zweimal hatte er sich in Zone F vorgewagt. E suchte er vielleicht fünfmal im Jahr auf.

Zu seiner Rechten tauchten die konvergierenden Linien eines Schattens auf, kamen hinter einer gewölbten, glasartigen Wand hervor. Das Heulen des Massedetektors erreichte das obere Ende des Spektrums für Tiere dieser Kategorie. Atropos, der kleinste Mond, der leichtsinnig über dem Himmel ritt, veränderte das Schattenmuster. Die Linien liefen nicht mehr zusammen. Statt dessen schnitt jetzt eine schwarze Schranke durch die beiden anderen Schatten. Muller erkannte den Schatten einer Schnauze. Kurz darauf sah er sein Opfer. Das Tier wies die Größe eines Schäferhundes auf, war am Maul grau und am Leib braungelb. Ein gebuckelter, häßlicher und unverkennbarer Fleischfresser. In den ersten Jahren auf Lemnos hatte Muller bewußt keine Fleischfresser gejagt, weil er der Ansicht gewesen war, ihr Fleisch würde nicht schmecken. Er hatte sich lieber auf die einheimischen Gegenstücke von Rind und Schaf spezialisiert — sanftmütige Huftiere, die sorglos durch das Labyrinth zogen und das Gras der Gartenflächen fraßen. Erst als er dieses zarte Fleisch über hatte, war er auf die Jagd nach einem der mit Zähnen und Krallen bewehrten Wesen gegangen, die den Pflanzenfressern nachstellten. Zu Mullers Überraschung schmeckte deren Fleisch ganz ausgezeichnet. Er beobachtete, wie das Tier auf den Platz trat. Die lange Schnauze zuckte. Muller konnte in seinem Versteck hören, wie das Tier schnüffelte. Aber Menschengeruch bedeutete diesem Wesen nichts.

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