Robert Silverberg - Der neue Frühling

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Robert Silverberg

Der neue Frühling

Prolog

Die Sterne des Todes waren erschienen, immer wieder waren sie gekommen, durch hunderttausend Jahre hin, und waren als Kehricht eines vagabundierenden Gestirns bei seinem Durchgang durch die äußeren Regionen des Sonnensystems auf die Erde gefegt worden. Sie brachten eine Zeit nicht enden wollender Dunkelheit und Kälte. Derlei geschah alle sechsundzwanzig Millionen Jahre immer wieder, und es gab dagegen keine Abhilfe. Doch nun war all dies vorbei. Die Todessterne regneten endlich nicht mehr nieder, das Firmament des Himmels klärte sich von Staub und Asche, und die Sonnenwärme vermochte wieder durch die Wolken herabzustrahlen. Die Gletscher entließen die Erde aus ihrem eisigen Würgegriff; der Lange Winter nahm ein Ende, und der Neue Frühling setzte ein. Die Welt wurde neu geboren.

Nunmehr war jedes neue Jahr wärmer als sein Vorgänger. Die hellen Jahreszeiten des Frühlings und Sommers, deren die Welt so lange bar gewesen, kehrten mit wachsender Macht zurück. Und das VOLK der MENSCHEN, das die Zeiten der Finsternis in versiegelten Kokons überdauert hatte, begann nun damit, sich rasch über das fruchtbare Land auszubreiten.

Dort aber wohnten bereits die Anderen. Die Hjjk, das düstere kaltäugige Insektenvolk, war nie zurückgewichen, nicht einmal in den Zeiten der tiefsten Kälte. Und so war ihnen, mangels andrer Wettstreiter, die Erde anheimgefallen, und siebenhunderttausend Jahre lang waren sie allein Herren und Meister gewesen. Und es war wenig wahrscheinlich, daß sie die Herrschaft nun fröhlichen Herzens mit anderen teilen würden.

1. Kapitel

Der Emissär

Als Kundalimon den messerscharfen Grat des von Felsbrocken übersäten Berges erreicht hatte und sich zum Abstieg in das grüne warme Tal anschickte, das sein Ziel war, spürte er den veränderten Wind. Durch Wochen hin hatte ihm der Wind auf seiner Reise vom Innern des Kontinents zur Küste im südlichen Westen scharf und trocken in den Rücken gebissen. Nun aber wehte der Wind aus dem Süden her: ein weicher, ein wohliger Wind, beinahe wie eine Liebkosung, und er trug ihm unzählige Düfte zu aus der Stadt der Fleischlinge dort unten.

Was diese verschiedenen Duftsignale bedeuteten, das konnte er nur ahnen.

Einer der Gerüche, so vermutete er, war ähnlich dem der Lust der Schlangen; ein anderer wie der von brennenden Federn; und es gab eine dritte Duftkomponente, von der er annahm, sie rühre von Meereswesen her, die heftig schlagend in Netzen ans Land geschleppt werden. Aber dann war da noch dieser andere Duft, der beinahe der des vertrauten Nests hätte sein können — das Aroma von schwarzem Wurzelerdreich aus den untersten Schächten tief unter der Erdoberfläche.

Doch er wußte, daß er sich einer Täuschung hingab. Sein jetziger Ort hätte kaum weiter vom Nest und seinen vertrauten Duft- und Tastnoten entfernt sein können.

Mit einem Pfiff und einem Druck der Hacken brachte Kundalimon seinen Zinnobären zum Halten. Er nutzte die Rast und sog heftig und tief die vielgeschichteten Dünste der Stadt in seine Lungen ein, weil er hoffte, das fremde Duftgeflecht werde ihn wieder verfleischlichen, Und er brauchte an diesem Tag die Inkarnation. Er war jetzt ein Hjjk, aus ganzer Seele, wenn auch nicht dem Körper nach. Heute jedoch mußte er seine ganze Hjjkhaftigkeit abstreifen und diesen Fleischkreaturen entgegentreten, als wäre er einer von ihnen. Einstmals, vor langer Zeit, war er dies ja auch wirklich gewesen.

Er würde zu ihnen in ihrer Sprache sprechen müssen, mit den paar kärglichen Brocken, die er noch aus seiner Kindheit behalten hatte. Er würde ihre Nahrung essen müssen, und wenn ihn dabei noch so stark der Ekel würgte. Und es mußte ihm gelingen, zu ihren Seelen vorzudringen und sie zu berühren. Von ihm hing sehr viel ab.

Kundalimon war hergekommen, um dem Volk der Fleischlinge das Geschenk der Königin-Liebe zu überbringen, die höchste Gabe, die er sich vorzustellen vermochte. Er sollte sie, diese Fleischlinge, bestürmen, daß sie IHR die Herzen auftaten, den Fleischlingen laut zurufen, sich IHRER Umarmung hinzugeben. Sie anzuflehen, daß sie von IHRER Liebesflut ihre Seelen durchströmen lassen sollten. Denn dann, und nur dann, würde es fortan weiter den Frieden der Königin in der Welt geben. Wenn Kundalimon in seiner Mission versagte, mußte dies das Ende des Friedens bedeuten, und es würde schließlich wieder zum Krieg kommen zwischen den Fleischlingen und den Hjjk: Zwist, Vergeudung und nutzloses Sterben würden die Folge sein, die Unterbrechung der NestÜberfülle.

Einen solchen Krieg wollte die Königin nicht. Überhaupt waren Kriege grundsätzlich kein zwangsläufiger Integralaspekt des NestPlanes; sie waren nur der allerletzte Ausweg. Aber die Sachzwänge der Nest-Planung waren unzweideutig. Wenn die Fleischlinge sich weigerten, die Liebeskönigin zu umarmen, auf daß SIE Fröhlichkeit in ihre Herzen bringe, dann würde der Krieg wohl unmöglich noch abzuwenden sein.

„Weiter!“ befahl er seinem Reittier, und das wuchtige rote Zinnobär begann den steilen Hang ins üppig begrünte Tal hinab zuschlittern.

In wenigen Stunden würde er jetzt die Stadt Dawinno erreichen, die große Metropole im Süden, das Mutter-Nest der Fleischlinge. Den Ort, an dem der größte Schwarm dieser Rasse (seiner, Kundalimons, eigener früherer Rasse, aber das war vorbei) wohnte.

Er begaffte mit einem Gemisch aus Verblüffung und Verachtung die Szenerie, die sich ihm bot. Die Üppigkeit in allem war beeindruckend, ja erschreckend; dennoch empfand er irgendwo in seinem Innern Verachtung, unklar, aber stark gegenüber diesem Ort der Verweichlichung und des schamlos übertriebenen Überflusses. In welche Richtung er auch blickte, überall sah er ein Übermaß, das ihm den Schädel mit einem Brausen der Verwirrung erfüllte. All das Blattwerk, schimmernd von Tau in der Morgensonne! Diese grüngoldenen Schlingreben, die sich in aberwitziger Üppigkeit mit irrsinniger Kraft an gewaltigen Bäumen emporrankten! Von den Zweigen geduckter langästiger Sträucher hingen schwere rote Früchte, die aussahen, als könnten sie den Durst für einen ganzen Mondwechsel stillen. Dichte Büsche mit bläulich-feucht schimmerndem pelzigen Laub trugen unglaublich große Büschel glänzender lavendelblauer Beeren. Das Gras stand dicht und voller saftiger scharlachschimmernder Halme und schien geradezu auf die entzückte Gier hungernder Wanderer zu warten.

Und diese ausgelassenen Schwärme träge lärmender Vögel; leuchtendweiß im Gefieder mit auffälligen karmesinroten Streifen über den mächtigen Schnäbeln... die kleinen lauten großäugigen Vierfüßer, die durch den niedren Pflanzenwuchs wuselten. die kleinen geflügelten Insekten mit ihrem regenbogenfarbenen Schwingenschwirren...

Zu viel, dachte Kundalimon, zu viel, zu viel. Viel, viel zu viel. Er vermißte die Kargheit der nördlichen Heimat, die trockenen kargen Ebenen, wo ein Streifen dürren Grases Anlaß zu Freudengesängen war und wo man seiner Nahrung sich mit der schicklichen Ehrfurcht näherte, weil man wußte, was für ein Glück einem zuteil wurde, wenn man ein Säcklein harter altersgrauer Saatkörner und einen Schnitz braunen Trockenfleisches bekam.

Ein Land so wie dies hier, das von allerlei Nahrung strotzte, die man sich überall einfach nur zu nehmen brauchte, erweckte irgendwie den Eindruck der Disziplinlosigkeit, ja sogar der Verzärtelung. Ein Ort für gemütlichen Schlendrian und ein scheinbares Paradies. Aber mußte dies nicht am Ende alles — unter dem Deckmantel der Wohlfahrt — sich als Schaden für die arglosen Landesbewohner erweisen? Wo dem Menschen die Nahrungsaufnahme zu leicht gemacht wird, folgt daraus unvermeidlich die Schädigung der Seele. An einem Ort wie diesem hier kann man mit vollem Bauch rascher verhungern als mit einem leeren.

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