Robert Silverberg - Kinder der Retorte

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Am Anfang war Krug
und er sprach: »Es seien Retorten«, und da waren Retorten.
Und Krug betrachtete die Retorten und fand sie gut.
Und Krug sprach: »Es seien Nukleotiden in den Retorten.« Und die Nukleotiden wurden in die Retorten gegossen, und Krug mischte sie, bis sie sich miteinander verbanden.
Und die Nukleotiden bildeten die großen Moleküle, und Krug sprach: »Es werde der Vater und werde die Mutter in den Retorten, und es teilen sich die Zellen, und Leben entsteht in den Retorten.«
Und es ward Leben, denn da war Reproduktion.
Und hierfür sei Krug gepriesen.

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Robert Silverberg

Kinder der Retorte

1

»Seht«, würde Krug sagen, »vor einer Milliarde Jahren gab es keine Menschen, es gab nur Fische, glitschige Lebewesen mit Kiemen und Schuppen und kleinen runden Augen. Sie lebten im Ozean, und der Ozean war wie ein Gefängnis, und die Luft war wie ein Dach auf dem Gefängnis. Niemand konnte durch das Dach gehen. ›Du wirst sterben, wenn du es versuchst‹, sagte jedermann, und da war ein Fisch, der versuchte es und starb. Und da war ein zweiter Fisch, der es versuchte, und auch er starb. Doch da war ein dritter Fisch, der es versuchte, und sein Gehirn brannte, und seine Kiemen brannten, und die Luft drohte ihn zu ersticken, und die Sonne war eine Fackel, die man in seine Augen stieß, und er lag da im Schlamm, wartete auf seinen Tod, und er starb nicht. Er kroch vom Strand zurück ins Wasser und sagte: ›Seht, dort ist eine ganz andere Welt.‹ Und er ging wieder hinauf und blieb zwei Tage oben, und dann starb er. Und andere Fische waren neugierig auf die andere Welt. Und sie krochen hinauf auf den schlammigen Strand. Und blieben. Und lernten, die Luft zu atmen. Und lernten aufzustehen, umherzugehen, mit dem Sonnenlicht in den Augen zu leben. Und sie wurden Eidechsen, Dinosaurier, und sie gingen umher Millionen Jahre lang, und sie begannen sich auf Ihren Hinterbeinen aufzurichten, und sie benutzten ihre Hände, um Dinge zu greifen, und sie wurden Affen, und die Affen wurden klüger und wurden Menschen. Und die ganze Zeit gab es einige wenige unter ihnen, die Ausschau hielten nach neuen Welten. Man sagte zu ihnen: ›Laßt uns zurückgehen in den Ozean, laßt uns wieder Fische werden, das ist bequemer.‹ Und vielleicht die Hälfte, mehr als die Hälfte, war bereit, dies zu tun, doch es gab immer welche, die sagten: ›Seid nicht verrückt. Wir können nicht mehr Fische sein. Wir sind Menschen.‹ Und so gingen und gehen sie nicht zurück. Sie klettern immer höher.«

2

20. September 2218

Simeon Krugs Turm erhebt sich jetzt 100 Meter über der graubraunen Tundra der kanadischen Arktis, westlich der Hudson Bay. Zur Zeit ist der Turm nur ein gläserner Stumpf, hohl, oben offen, gegen Wetterunbilden nur abgeschirmt durch ein Isolierfeld, das wie ein Dach wenige Meter über dem jeweiligen Arbeitsniveau schwebt. Um das unvollendete Bauwerk herum wimmeln die Arbeitskolonnen der Androiden, Tausende von synthetischen Menschen mit roter Haut, die Glasblöcke auf Lastenaufzüge verladen und die Aufzüge zum Gipfel des Turms hinaufschicken, wo andere Androiden die Blöcke aufeinanderschichten. Krug läßt seine Androiden in drei Schichten rund um die Uhr arbeiten; wenn es dunkel wird, wird die Baustelle beleuchtet von Millionen von Reflektorplatten, die in ein Kilometer Höhe aufgehängt sind und gespeist werden von dem kleinen, nördlich des Baugeländes installierten Fusionsgenerator.

Von der riesigen achteckigen Basis des Turms aus verlaufen in alle Richtungen breite, silbrige Abkühlungsstreifen, die fünfzig Zentimeter tief in den gefrorenen, aus Erde, Wurzeln, Moos und Flechten bestehenden Teppich der Tundra eingebettet sind. Die einzelnen Streifen sind mehrere Kilometer lang. Ihre Helium-ll-Diffusionszellen saugen die von den Androiden und den beim Bau verwendeten Fahrzeugen erzeugte Hitze auf. Wenn die Streifen nicht da wären, würde die Tundra bald durch den die Bautätigkeit begleitenden Energieausstoß in einen See von Schlamm verwandelt werden; die kolossalen Fundamentcaissons würden ihren Halt verlieren, und das große Bauwerk würde umkippen und fallen wie ein gestürzter Titan. Die Streifen halten die Tundra in einem tiefgefrorenen, festen Zustand, der sie befähigt, die immense Last zu tragen, die Simeon Krug ihr jetzt aufbürdet.

Rund um den Turm, in einem Radius von einem Kilometer, sind Hilfsgebäude verteilt. Westlich der Baustelle befindet sich das Hauptkontrollzentrum. Im Osten steht das Laboratorium, in dem die auf dem Tachyonstrahl basierende Ultrawellensendeanlage montiert wird, eine kleine rosafarbene Kuppel, unter der gewöhnlich zehn oder zwölf Techniker geduldig an der Abstimmung des Gerätes arbeiten, mit dem Krug Botschaften zu den Sternen zu schicken hofft. Nördlich der Baustelle erstreckt sich ein Areal von verschiedenartigen Dienstleistungsanlagen. Auf der Südseite liegt der Bahnhof mit den Transmatkabinen, die den Verkehr zwischen dieser abgelegenen Region und der zivilisierten Welt aufrechterhalten. Ständig entsteigen den Transmatkabinen Menschen und Androiden, die aus New York oder Nairobi oder Novosibirsk kommen, und andere besteigen sie, um nach Sydney oder San Francisco oder Shanghai zu reisen.

Krug besucht die Baustelle zumindest einmal am Tage – allein, oder mit seinem Sohn Manuel, oder mit einer seiner Frauen, oder mit ändern Industriellen. Gewöhnlich bespricht er sich mit Thor Watchman, seinem Androidenaufseher, fährt mit einem Aufzug zur Spitze des Turms und späht in ihn hinunter, überprüft die Fortschritte in dem Tachyonstrahl-Laboratorium, unterhält sich mit einigen Arbeitern, um sie zu größerer Anstrengung zu ermuntern. Im allgemeinen verbringt Krug nicht mehr als fünfzehn Minuten am Turm. Dann besteigt er wieder die Transmatkabine und wird in Gedankenschnelle zu der Arbeit geschleudert, die ihn anderswo erwartet.

Heute hat er eine ziemlich große Gesellschaft mitgebracht, um das Erreichen der 100-Meter-Höhe zu feiern. Krug steht in der Nähe des späteren Westeingangs des Turmes. Er ist ein stämmiger Mann von sechzig Jahren, tiefgebräunt von der Sonne, mit breiter Brust und kurzen Beinen, glänzenden, nahe beieinanderstehenden Augen und knolliger Nase. Es ist etwas von urwüchsiger Bauernkraft an ihm. Seine Verachtung für jede kosmetische Körperpflege zeigt sich In seinen plumpen Gesichtszügen, seinen zottigen Augenbrauen, seinem sich stark lichtenden Haar; er ist fast ganz kahl und tut nichts dagegen. Sommersprossen zeigen sich zwischen den schwarzen Strähnen, die quer über seinen Schädel gekämmt sind. Er ist mehrere Milliarden Dollar wert, doch er kleidet sich einfach und trägt keine Juwelen; lediglich die Selbstherrlichkeit seiner Haltung und seines Gesichtsausdrucks läßt auf seinen Reichtum schließen.

Neben ihm steht sein Sohn und Erbe Manuel, sein einziges Kind, groß, schlank, fast etwas unmännlich, zu hübsch, zu elegant gekleidet in ein weites grünes Gewand, mit hohen Stiefeln und rotbrauner Schärpe. Er trägt Ohrringe und auf der Stirn eine Spiegelplatte. Er wird in Kürze dreißig Jahre alt. Seine Bewegungen sind anmutig, doch wenn er ruhig dasteht, wirkt er nervös.

Der Androide Thor Watchman steht zwischen Vater und Sohn. Er ist so groß wie Manuel, so kräftig gebaut wie der alte Krug. Sein Gesicht ist das eines Androiden der Standard-Alpha-Klasse, mit schmaler kaukasischer Nase, dünnen Lippen, starkem Kinn, hohen Backenknochen: ein idealisiertes Gesicht, ein Gesicht wie aus Plastik. Doch dieses Gesicht drückt überraschenderweise eine ungewöhnliche Individualität aus. Niemand, der Thor Watchman einmal gesehen hat, wird ihn beim nächstenmal mit irgendeinem anderen Androiden verwechseln. Seine Augenbrauen, seine Lippen, die Haltung seiner Schultern kennzeichnen ihn als einen Androiden von Stärke und Entschlußkraft. Er ist – so absurd das klingen mag – eine Persönlichkeit. Er trägt ein Wams aus weitmaschigem Gewebe; er ist unempfindlich gegen die beißende Kälte auf dem Baugelände, und seine Haut, die tiefrote, immer etwas wächsern wirkende Haut eines Androiden, ist an vielen Stellen durch das Gewand zu sehen.

Es gehören sieben weitere Personen zu der Gruppe, die den Transmatkabinen entstiegen ist. Es sind:

Clarissa, die Frau von Manuel Krug.

Quenelle, eine Frau, jünger als Manuel, die derzeitige Favoritin seines Vaters.

Leon Spaulding, Krugs Privatsekretär, ein Ektogene.

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