Glumow: Das heißt?
Kammerer: Siehst du, wir sind für sie nicht maßgeblich. Wir müssen uns jetzt an eine völlig neue Situation gewöhnen. Nicht wir legen den Zeitpunkt von Gesprächen fest, nicht wir bestimmen das Thema … Wir haben überhaupt die Kontrolle über die Ereignisse verloren. Und die Situation, das mußt du zugeben, hat nicht ihresgleichen. Bei uns auf der Erde, mitten unter uns, wirkt eine Kraft … und was für eine! Wir wissen nichts über sie. Genauer, wir wissen nur, was uns zu wissen erlaubt wird, und das, mußt du zugeben, ist fast schlimmer, als wenn wir gar nichts wüßten. Ein ungutes Gefühl, nicht wahr? Nein, ich kann nichts Schlechtes über diese Menten sagen, aber an Gutem ist doch auch nichts über sie bekannt!
Pause.
Kammerer: Sie wissen über uns alles, wir aber über sie — nichts. Das ist erniedrigend. Jetzt empfindet jeder von uns, der mit der Situation in Berührung kommt, ein Gefühl der Erniedrigung … Da steht uns nun bevor, zwei Mitglieder des Weltrates einer Tiefenmentoskopie zu unterziehen — nur, um zu rekonstruieren, wovon denn da während der historischen Besprechung im „Leonidsheim“ die Rede war … Und beachte, weder die Mitglieder des Weltrates noch wir wollen diese Mentoskopie, sie erniedrigt uns alle, aber uns bleibt keine Wahl, obwohl die Erfolgschancen, wie dir klar ist, mehr als fraglich sind …
Glumow: Aber Sie haben doch Ihre Agenten unter ihnen!
Kammerer: Genauer, nicht „unter“, sondern neben ihnen … „Unter ihnen“ — davon können wir nur träumen. Und dabei, fürchte ich, wird es bleiben. Wer von ihnen würde uns helfen wollen? Wozu sollte er? Was kümmern wir sie? Hm? Toivo!
Lange Pause.
Glumow: Nein, Maxim. Ich will nicht. Ich verstehe alles, aber ich will nicht!
Kammerer: Du hast Angst?
Glumow: Ich weiß nicht. Ich will einfach nicht. Ich bin ein Mensch, und ich will nichts anderes sein. Ich will nicht auf euch herabsehen. Ich will nicht, daß mir die Menschen, die ich achte und liebe, wie Kinder erscheinen. Ich verstehe: Sie hoffen, daß das Menschliche in mir erhalten bleibt … Vielleicht haben Sie sogar Gründe zu dieser Hoffnung. Aber ich will es nicht riskieren. Ich will nicht!
Pause.
Kammerer: Nun ja … Letzten Endes ist das sogar lobenswert.
Ich war mir des Erfolges sicher gewesen. Ich hatte mich getäuscht.
Ich hatte dich doch schlecht gekannt, Toivo Glumow, mein Junge. Du warst mir fester erschienen, besser gewappnet, fanatischer, wenn man so will.
Und nun endlich ein paar Worte über das wahre Ziel dieser meiner Memoiren.
Diejenigen unter meinen Lesern, die das Buch „Die fünf Biographien des Jahrhunderts“ kennen, haben schon erraten, daß dieses Ziel darin besteht, die sensationelle Hypothese von P. Soroka und E. Braun zu widerlegen, daß Toivo Glumow schon als Progressor auf der Giganda ins Blickfeld der Menten geraten und von ihnen als einer der ihren erkannt worden sei. Daß er gleich damals von ihnen umgewandelt, auf das entsprechende Niveau gehoben und zu mir in die KomKon 2 geschickt worden sei, weniger als Spion, sondern als Desinformator und Fehlinterpretator. Daß er sich fünf Jahre lang mit nichts anderem befaßt habe, als in der KomKon eine Atmosphäre der Jagd auf die Wanderer anzuheizen, indem er jeden falschen Schritt, jede Fehlkalkulation, jede Unachtsamkeit der Menten als Manifestation des Wirkens einer verhaßten Superzivilisation auslegte. Fünf Jahre lang habe er die gesamte Leitung der KomKon 2 an der Nase herumgeführt, und vor allem natürlich seinen Chef und Schirmherren. Und als es schließlich doch gelungen sei, die Menten zu entlarven, habe er vor dem vertrauensseligen Big Bug die letzte herzzerreißende Komödie gespielt und sei aus dem Spiel ausgeschieden.
Ich nehme an, daß jeder unvoreingenommene Leser, der mit den Konstruktionen von Soroka und Braun nicht vertraut ist, an dieser Stelle meiner Darlegungen mit den Schultern zuckt und sagt: „Was für ein Unsinn, welch sonderbare Idee haben die beiden, die widerspricht doch allem, was ich eben gelesen habe …“ Was indes den voreingenommenen Leser angeht, den, der Toivo Glumow vorher nur aus den „Fünf Biographien“ kannte, so kann ich ihm nur eins raten: Versuchen Sie, das Ihnen vorgelegte Material unparteiisch zu betrachten; es hat keinen Sinn, Öl ins Feuer des Menten-Problems zu gießen, nachdem es heute schon etwas weniger heftig brennt.
Man kann sagen, was man will, die Geschichte der Großen Offenbarung enthält viele „weiße Flecke“, doch ich behaupte im vollen Bewußtsein meiner Verantwortung, daß diese Flecke in keinerlei Beziehung zu Toivo Glumow stehen. Und im vollen Bewußtsein meiner Verantwortung erkläre ich, daß alle scharfsinnigen Konstruktionen von P. Soroka und E. Braun einfach leichtfertiges Gefasel sind, wieder so ein Versuch, sich mit der rechten Hand unterm linken Knie hindurch ans linke Ohr zu fassen.
Was nun „die letzte herzzerreißende Komödie“ angeht, so bedaure ich nur eins, mache mir nur wegen einer Sache bis heute bittere Vorwürfe. Ich habe damals nicht begriffen, ich altes dickfelliges Nashorn, habe nicht vorauszuahnen vermocht, daß ich Toivo Glumow zum letztenmal sah.
Dokument 21
An M. Kammerer
„Pappel II, Whng. 9716
Swerdlowsk
18. Mai ’99
Big Bug!
Heute hat mich Logowenko besucht. Das Gespräch dauerte von 12.15 Uhr bis 14.05 Uhr. Logowenko war sehr beredt. Es lief darauf hinaus, daß alles nicht so einfach sei, wie wir es uns vorstellen. Zum Beispiel werde behauptet, daß die stationäre Entwicklungsphase der Menschheit zu Ende gehe und eine Epoche von Erschütterungen (biosozialen und psychosozialen) bevorstehe; die Hauptaufgabe der Menten gegenüber der Menschheit sei es, auf Wacht zu stehen (sozusagen als „Fänger im Roggen“). Gegenwärtig leben und spielen auf der Erde und im Kosmos 432 Menten. Man schlägt mir vor, der vierhundertdreiunddreißigste zu werden, wozu ich übermorgen, am 20. Mai, 10.00 Uhr, in Charkow im Institut der Sonderlinge erscheinen soll.
Der Verderber des Menschengeschlechts flüstert mir ein, nur ein kompletter Idiot vermöchte auf solch eine Chance zu verzichten. Diese Einflüsterungen kann ich ohne besondere Mühe ignorieren, denn ich bin ein Mensch ohne ausgeprägten Ehrgeiz, wie Ihnen bestens bekannt ist, und ich kann keine Elite leiden, in welchem Gewande auch immer. Ich will nicht verhehlen, daß sich der Eindruck vom letzten Gespräch mit Ihnen tiefer in mir festgesetzt hat, als mir lieb ist. Es ist äußerst unangenehm, sich als Deserteur zu fühlen. Ich würde bei der Wahl keine Sekunde zögern, aber ich bin absolut sicher: Sobald sie mich in einen Menten verwandeln, bleibt nichts (nichts!) Menschliches mehr in mir. Gestehen Sie, im Grunde denken Sie genauso.
Ich werde nicht nach Charkow fahren. In diesen Tagen habe ich alles gründlich überdacht, und ich werde nicht nach Charkow fahren, weil das erstens Verrat an Assja wäre. Zweitens, weil ich meine Mutter liebe und sie hoch ehre. Drittens, weil ich meine Kameraden und meine Vergangenheit liebe. Die Umwandlung in einen Menten ist mein Tod. Sie ist viel schlimmer als der Tod, denn für die, die mich lieben, bleibe ich am Leben, aber bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ein hochnäsiger, selbstzufriedener, selbstsicherer Typ. Dazu gewiß auch noch ewig.
Morgen werde ich Assja auf die Pandora folgen.
Leben Sie wohl. Ich wünsche Ihnen Erfolg.
Ihr Toivo Glumow
Dokument 22
Bericht Nr. 086/99
KomKon 2
Ural/Norden
Datum: 14. November ’99
Autor: S. Mtbewari, Inspektor
Thema 081: „Die Wellen ersticken den Wind“
Betr.: Gespräch mit T. Glumow
Gemäß Ihrer Anweisung gebe ich meine Unterhaltung mit dem ehemaligen Inspektor T. Glumow von Mitte Juli dieses Jahres nach dem Gedächtnis wieder. Gegen 17.00 Uhr, als ich mich in meinem Arbeitszimmer befand, ertönte der Videofonruf, und auf dem Bildschirm erschien das Gesicht T. Glumows. Er war fröhlich, lebhaft und grüßte mich lauthals. Seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, hatte er etwas zugenommen. Es folgte etwa dieses Gespräch:
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