Arkadi Strugatzki - Die Wellen ersticken den Wind

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Dieser Roman spielt in derselben Zukunftswelt wie vorhergehende Werke der Autoren. Maxim Kammerer, der Erzähler schon in Ein Käfer im Ameisenhaufen, berichtet hier als alter Mann von Ereignissen, die zwei Jahrzehnte zurückliegen. Damals war er Abteilungsleiter des KomKon 2, eines irdischen Sicherheitsdienstes; Held des Romans ist aber Toivo Glumow, ein ehemaliger „Progressor“, d. h. Agent der Erde auf einem anderen Planeten. Besessen von der Idee, es müsse unter den Menschen Agenten außerirdischer Mächte geben, beginnt er mit der Auswertung isolierter rätselhafter Vorfälle, etwa dem ungeklärten Verschwinden einzelner Menschen. Rätselhaftes häuft sich, bis der Leser im Verlauf einer ungemein spannenden, einfallsreichen Detektivfabel die wahre Lösung des Mysteriums erfährt.
Dieser neueste Roman der Strugatzkis beweist, daß es die Autoren verstehen, raffiniert angelegte Romane zu schreiben, die den Leser nicht nur verblüffen, sondern auch ganz neue Perspektiven über die Natur und die Zukunftsaussichten des Menschen eröffnen.

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Arkadi und Boris Strugatzki

Die Wellen ersticken den Wind

Verstehen bedeutet vereinfachen.

D. Strogow

Phantastische Erzählung

Phantastische Bibliothek

Band 206

Suhrkamp

Einführung

Ich heiße Maxim Kammerer. Ich bin neunundachtzig Jahre alt.

Vor langer Zeit habe ich einmal einen alten Roman gelesen, der auf ebendiese Weise begann. Ich weiß noch, wie ich damals dachte, daß ich, wenn ich dereinst Memoiren zu schreiben hätte, genauso anfangen würde. Übrigens kann der vorliegende Text strenggenommen nicht zu den Memoiren gezählt werden, und an seinem Anfang sollte ein Brief stehen, den ich vor ungefähr einem Jahr erhielt.

Nowgorod, den 13. Juni ”25

Kammerer,

Sie haben natürlich die berüchtigten „Fünf Biographien des Jahrhunderts“ gelesen. Bitte helfen Sie mir herauszufinden, wer sich hinter den Pseudonymen P. Soroka und E. Braun verbirgt. Ihnen wird das vermutlich leichter fallen als mir.

M. Glumowa

Ich habe diesen Brief nicht beantwortet, weil es mir nicht gelungen ist, die wirklichen Namen der Autoren jener „Fünf Biographien des Jahrhunderts“ zu ermitteln. Ich vermochte nur festzustellen, daß P. Soroka und E. Braun, wie zu erwarten, prominente Mitarbeiter der Gruppe „Menten“ am Institut für kosmische Geschichtsforschung (IKGF) sind.

Ich konnte ohne Mühe nachfühlen, was Maja Toivowna Glumowa empfand, als sie die Biographie ihres Sohnes in der Version von P. Soroka und E. Braun las. Und mir wurde klar, daß ich mich äußern muß.

Also habe ich diese Memoiren geschrieben.

Aus der Sicht eines unbefangenen und insbesondere eines jungen Lesers haben die Ereignisse, von denen darin die Rede sein wird, eine ganze Epoche im kosmischen Selbstverständnis der Menschheit beendet und — wie es anfangs schien — völlig neue Perspektiven eröffnet, über die es vorher nur theoretische Betrachtungen gegeben hatte. Ich war Zeuge, Teilnehmer und in gewissem Sinne sogar Initiator dieser Ereignisse, und so nimmt es nicht wunder, daß mich die Gruppe „Menten“ seit ein paar Jahren mit entsprechenden Anfragen bombardiert, mit offiziellen und inoffiziellen Bitten, die Patenschaft über ihre Arbeiten zu übernehmen, und mit Appellen an mein Pflichtbewußtsein. Ich habe den Zielen und Aufgaben der Gruppe „Menten“ von Anfang an Verständnis und Mitgefühl entgegengebracht, aber nie ein Hehl aus meiner Skepsis gemacht, was ihre Erfolgschancen angeht. Außerdem war mir völlig klar, daß die Unterlagen und Informationen, über die ich persönlich verfüge, der Gruppe „Menten“ nicht im mindesten von Nutzen sein können, und ich bin daher bislang jeder Teilnahme an ihrer Arbeit ausgewichen.

Jetzt aber hatte ich aus Gründen, die eher privater Natur sind, das dringende Bedürfnis, alles, was mir über die ersten Tage der Großen Offenbarung bekannt ist, doch einmal zusammenzutragen und jedem, den es interessiert, zu unterbreiten — im Grunde also mein Wissen über die Ereignisse, die jenen Sturm an Diskussionen, Befürchtungen, Unruhe, Streit, Aufruhr und vor allem gewaltigem Erstaunen ausgelöst haben, den man gemeinhin als die Große Offenbarung bezeichnet.

Ich habe den letzten Absatz durchgelesen und muß mich sogleich korrigieren. Erstens präsentiere ich natürlich nicht alles, was mir bekannt ist. Manche Unterlagen sind von zu speziellem Charakter, als daß sie hier dargelegt werden könnten. Einige Namen verschweige ich aus rein ethischen Gründen. Desgleichen verzichte ich darauf, gewisse spezifische Methoden meiner damaligen Tätigkeit als Leiter einer Abteilung Besondere Vorkommnisse (BV) der Kommission für Kontrolle (KomKon 2) zu erwähnen.

Zweitens waren die Ereignisse des Jahres ’99 strenggenommen nicht die ersten Tage der Großen Offenbarung, sondern im Gegenteil ihre letzten. Ebendarum ist sie heute nur noch Gegenstand rein historischer Forschungen. Doch gerade das können die Mitarbeiter der Gruppe „Menten“ anscheinend nicht begreifen, oder besser: das wollen sie nicht einsehen, obwohl ich mir die größte Mühe gegeben habe, es ihnen begreiflich zu machen. Aber vielleicht war ich nicht hartnäckig genug. Die Zeit ist für mich vorbei.

Toivo Glumows Persönlichkeit erregt naturgemäß besonderes, ich würde sagen spezielles Interesse bei den Mitarbeitern der Gruppe „Menten“. Ich kann das verstehen und habe ihn daher zur Zentralfigur meiner Memoiren gemacht.

Freilich nicht nur und nicht in erster Linie aus diesem Grunde. Aus welchem Anlaß ich auch an jene Tage denke und was mir dabei auch einfällt, in meiner Erinnerung erscheint sogleich Toivo Glumow — ich sehe sein schmales, immer ernstes, junges Gesicht vor mir, seine immerzu halb über die grauen wasserklaren Augen herabgesenkten langen weißen Wimpern, ich höre seine gleichsam mit Absicht langsam fließenden Worte, spüre abermals den stummen, hilflosen, doch unerbittlichen Druck, der von ihm ausging wie ein tonloser Schrei: „Ja, was machst du denn? Warum unternimmst du nichts? Befiehl!“; und umgekehrt — kaum kommt er mir, in welchem Zusammenhang auch immer, in den Sinn, schon erwachen wie von einem rohen Fußtritt geweckt „die bösen Hunde der Erinnerung“, der ganze Schrecken jener Tage, die ganze Verzweiflung jener Tage, die ganze Ohnmacht jener Tage, Schrecken, Verzweiflung und Ohnmacht, die ich damals allein durchgemacht habe, denn es gab niemanden, mit dem ich sie hätte teilen können.

Die Grundlage der vorliegenden Memoiren bilden Dokumente. In der Regel sind das die Standardberichte meiner Inspektoren sowie einige offizielle Korrespondenz, die ich hier vor allem anführe, um die Atmosphäre jener Zeit halbwegs wiederzugeben. Überhaupt wird ein gründlicher und kompetenter Leser mühelos bemerken, daß eine Reihe zur Sache gehörender Dokumente in den Memoiren fehlt, während man auf manche anderen aufgenommenen Dokumente wohl auch verzichten könnte. Um solch einem Vorwurf zuvorzukommen, möchte ich anmerken, daß ich die Materialien nach gewissen Prinzipien zusammengestellt habe, die näher zu erörtern ich weder wünsche noch für sonderlich notwendig halte.

Des weiteren machen Rekonstruktionskapitel einen erheblichen Teil des Textes aus. Diese Kapitel entstammen meiner Feder und sind in der Tat die Rekonstruktion von Szenen und Ereignissen, bei denen ich nicht zugegen war. Rekonstruiert habe ich sie auf der Grundlage von Erzählungen, Tonaufzeichnungen und späteren Erinnerungen von Leuten, die an diesen Szenen und Ereignissen beteiligt waren, wie Toivo Glumows Frau Assja, seine Kollegen, seine Bekannten usw. Mir ist klar, daß diese Kapitel für die Mitarbeiter der Gruppe „Menten“ von geringem Wert sind, doch sei’s drum — für mich sind sie wertvoll.

Und schließlich habe ich mir erlaubt, den informationstragenden Text der Memoiren ein wenig mit eigenen Reminiszenzen aufzulockern, die weniger über die Ereignisse von damals als über den damaligen achtundfünfzigjährigen Maxim Kammerer etwas aussagen. Das Verhalten dieses Menschen unter den dargestellten Umständen entbehrt heute, einunddreißig Jahre später, sogar für mich selbst nicht des Interesses …

Als ich mich endgültig entschlossen hatte, diese Memoiren zu schreiben, fand ich mich vor der Frage: Womit beginnen? Wann und womit nahm die Große Offenbarung ihren Anfang?

Strenggenommen begann das alles vor zwei Jahrhunderten, als in den Tiefen des Mars plötzlich eine leere Tunnelstadt aus Elektrin entdeckt wurde: Damals fiel zum erstenmal das Wort „Wanderer“.

Das ist richtig. Aber zu allgemein. Ebensogut könnte man sagen, daß die Große Offenbarung im Augenblick des Großen Urknalls begonnen habe.

Also dann vielleicht vor fünfzig Jahren? Der Fall mit den „Findelkindern“? Als das Wanderer-Problem erstmals einen tragischen Beigeschmack erhielt, als der giftig-vorwurfsvolle Begriff „Sikorsky-Syndrom“ entstand und von Mund zu Mund ging — der Komplex unkontrollierter Angst vor einer möglichen Invasion der Wanderer? Auch richtig. Und schon viel näher bei der Sache … Doch damals war ich noch nicht Chef der Abteilung BV, und auch die Abteilung selbst existierte noch nicht. Außerdem schreibe ich ja keine Geschichte des Wanderer-Problems.

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