»Ich dachte, sie gäben dir eine Injektion oder Pille«, sagte er, »und nicht, daß sie dir verbieten würden, zu springen. Wie sollen wir denn jetzt des Bischofs Vogeltränke finden?«
»Du hast sie nicht gefunden, nachdem ich fort war?«
»Ich finde nicht einmal mehr die Kathedrale. Ich habe es den ganzen Nachmittag über versucht, und das Gemüsekürbisfeld war der nächstmögliche Punkt, den ich getroffen habe. Dieser elendige Schlupfverlust…«
»Schlupfverlust?« sagte Dunworthy hellhörig. Er kam zu der Stelle, wo wir beide standen. »War er größer als üblich?«
»Ich erzählte Ihnen doch davon«, sagte ich. »Vom Gemüsekürbisfeld.«
»Was für ein Gemüsekürbisfeld?«
»Das auf halbem Weg nach Birmingham. Mit den Hunden.«
»Ich habe Probleme, Coventry am fünfzehnten zu erreichen, Sir«, erklärte Carruthers. »Ich habe es heute bereits viermal probiert, und das dem Ziel am nächsten kommende Datum war der achte Dezember. Ned war am nächsten von uns allen, und deshalb brauche ich ihn, damit er zurückgeht und die Trümmer zu Ende durchwühlt.«
Dunworthy zog ein verwirrtes Gesicht. »Wäre es nicht einfacher, des Bischofs Vogeltränke vor dem Luftangriff zu suchen, also am vierzehnten?«
»Das versuchen wir ja seit fast zwei Wochen«, sagte Carruthers gereizt. »Lady Schrapnell wollte wissen, ob sich die Vogeltränke vor dem Angriff in der Kathedrale befand, also arrangierten wir einen Sprung für viertel vor acht, kurz vor Beginn der Bombardierung. Aber es klappte nicht. Entweder war der Tag falsch, oder wir waren, wenn der Zeitpunkt stimmte, sechzig Meilen entfernt in der Mitte eines Gemüsekürbisfeldes.« Er wies auf seine schmutzige Uniform.
»Wir?« Dunworthy runzelte die Stirn. »Wie viele Historiker haben es probiert?«
»Sechs. Nein, sieben«, erwiderte Carruthers. »Jeder, der nicht gerade woanders beschäftigt war.«
»Carruthers sagte, sie würde jeden ausprobieren«, warf ich ein. »Und deshalb holte man mich von den Wohltätigkeitsbasaren weg.«
»Um was ging’s da?«
»Um Verkäufe. Sie versuchen, Dinge zu verkaufen, die sie loswerden möchten, Dinge, die sie selbst beim letzten Basar gekauft haben, die meisten zumindest, und Dinge, die sie selbst angefertigt haben. Teedöschen und bestickte Nadelkästchen und Federhalterwischer und…«
»Ich weiß, was ein Wohltätigkeitsbasar ist«, sagte Dunworthy. »Gab es bei diesen Sprüngen irgendwelche Schlupfverluste?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur die üblichen. Und meistens nur räumliche. Niemand sah mich ankommen. Ich landete meist hinter dem Pfarrhaus oder dem Teezelt.«
Dunworthy wandte sich abrupt Carruthers zu. »Wie weit lagen Ihre Sprünge nach Coventry daneben?«
»Unterschiedlich« erwiderte er. »Paulson kam am achtundzwanzigsten November an.« Er hielt inne und rechnete im Kopf nach. »Im Durchschnitt etwa vierundzwanzig Stunden, würde ich sagen. Der zielgenaueste Sprung, den wir zustande brachten, traf den Nachmittag des fünfzehnten, und selbst das treffe ich jetzt nicht mehr. Deshalb muß Ned wieder hin. Der neue Rekrut ist noch dort, und ich bezweifle, daß er von selbst zurückfindet. Und wer weiß, in welche Schwierigkeiten er geraten mag.«
»Schwierigkeiten«, murmelte Dunworthy. Er wandte sich an die Technikerin. »Gab es bei allen Sprüngen erhöhte Schlupfverluste oder nur bei denen nach Coventry?«
»Woher soll ich das wissen?« sagte sie. »Ich bin für die Kleiderkammer zuständig. Ich vertrete Badri nur. Er ist der Netztechniker.«
»Ja, Badri!« Sein Gesicht hellte sich auf. »Gut. Wo ist er?«
»Bei Lady Schrapnell, Sir«, sagte Finch. »Und ich befürchte, sie sind gerade auf dem Weg hierher«, aber Dunworthy schien ihm nicht zuzuhören.
»Haben Sie während Ihrer Vertretung hier irgendwelche Sprünge durchgeführt, die nicht am vierzehnten November 1940 zur Kathedrale gehen sollten?«
»Einen«, sagte sie. »Nach London.«
»Wie hoch war der Schlupfverlust?« bohrte er weiter.
Sie sah aus, als wollte sie sagen: »Dafür habe ich keine Zeit«, besann sich aber offenbar eines Besseren und begann, auf ihre Tasten einzudreschen. »Räumlich, kein Schlupfverlust. Zeitlich, acht Minuten.«
»Also ist es nur Coventry«, sagte Dunworthy zu sich selbst. »Acht Minuten in welche Richtung? Früher oder später?«
»Früher.«
Er wandte sich wieder an Carruthers. »Haben Sie versucht, jemanden früher nach Coventry zu schicken und während des Luftangriffs dort zu lassen?«
»Ja, Sir«, antwortete Carruthers. »Sie kamen aber stets zu spät an.«
Dunworthy nahm seine Brille ab und inspizierte sie. Dann setzte er sie wieder auf. »War der Schlupfverlust eher zufällig oder stieg er stetig an?«
»Er stieg stetig an.«
»Finch, gehen Sie und fragen Sie Miss Kindle, ob sie irgendwelche Zufälle oder Diskrepanzen bemerkt hat, während sie in Muchings End war. Ned, Sie bleiben hier. Ich muß mit Lewis sprechen.« Er verließ den Raum.
»Was soll das alles?« Carruthers schaute ihm nach.
»Das Plätzchen«, entgegnete ich und setzte mich.
»Hoch mit Ihnen«, sagte der Seraph. »Der Sprung ist vorbereitet. Gehen Sie auf Ihren Platz.«
»Sollten wir nicht auf Mr. Dunworthy warten?« fragte ich.
»Ich habe neunzehn Sprünge verschoben, ganz zu schweigen einen anderen Sprung höchster Priorität für Mr. Dunworthy, und…«
»Schon gut, schon gut«, sagte ich, suchte Rucksack, Portmanteau, Reisetasche und Weidenkorb zusammen und brachte sie zum Netz. Die Schleier befanden sich immer noch einen Fußbreit über dem Boden. Ich setzte mein Gepäck ab, hob die Schleier, kroch darunter und begann, das Gepäck nachzuziehen.
»Das victorianische Zeitalter ist eine Zeit rasanter technischer und wissenschaftlicher Veränderungen«, sagte der Ohrstöpsel. »Die Erfindung des Telegrafen, des Gaslichtes und Darwins Evolutionstheorie veränderten auf unwiderrufliche Weise das Wesen der Gesellschaft.«
»Heben Sie Ihr Gepäck auf und stellen Sie sich auf das X«, sagte Miss Warder.
»Die Art zu reisen veränderte sich ebenfalls rapide. Die Erfindung der Dampflokomotive und die erste Untergrundbahn im Jahre 1863 gestatteten es den Menschen des victorianischen Zeitalters, sich schneller und weiter fortzubewegen als irgend jemand zuvor.«
»Fertig?« fragte sie, die Hand über der Tastatur.
»Ich glaube schon«, sagte ich und prüfte, ob sich alles unter den Schleiern befand. Eine Kante des Weidenkorbs schaute noch hervor. »Moment«, sagte ich und angelte ihn mit dem Fuß zu mir.
»Ich fragte, fertig?«
»Problemloses und erschwingliches Reisen erweiterte den Horizont der Victorianer und zerbrach die starren Grenzen zwischen den Klassen, die…«
Der Seraph hob die Schleier, riß die Stöpsel aus meinem Ohr, und ging zur Konsole zurück.
»Fertig?« fragte sie.
»Ja.«
»Moment!« sagte ich. »Ich weiß ja gar nicht, wohin ich gehe.«
»Siebter Juni 1888«, erwiderte sie und tippte weiter.
»Ich meine doch, danach«, sagte ich und versuchte, eine Öffnung in den Schleiern zu finden. »Ich habe Mr. Dunworthys Instruktionen nicht ganz verstanden. Wegen der Zeitkrankheit.« Ich deutete auf mein Ohr. »Schwierigkeiten, Laute zu unterscheiden.«
»Eher Schwierigkeiten beim Denken«, sagte sie. »Ich habe keine Zeit dafür«, und stürmte aus dem Raum.
»Wo ist Mr. Dunworthy?« hörte ich ihre Stimme im Korridor. Wahrscheinlich stand dort Finch.
Dunworthy hatte etwas von Muchings End gesagt und über ein Boot. Oder war das aus dem Ohrstöpsel gekommen? »Der Job ist kinderleicht«, hatte er gesagt.
»Wo ist er?« Ich hörte wieder den Seraphen, und seine Stimme ähnelte erschreckend der von Lady Schrapnell.
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