Die Bewacher der Zeit
JUGENDROMAN
Oliver Bart
Kennen Sie das Gefühl etwas ganz Besonderes zu sein? Ein wenig speziell vielleicht?
Wenn sie anderen Menschen begegnen, werden sie dann auch oft schräg angesehen?
Wissen sie wie es ist sich einfach anders zu fühlen?
Gut, dann denken sie genau wie ich. In meiner Wahrnehmung war ich eigentlich immer nur ich. Thomas Edis. Von meinen Freunden kurz Tom genannt.
Nicht das ich viele Freunde hatte, nein das konnte man nun wirklich nicht behaupten.
Wie die meisten Kinder meines Alters ging ich noch zur Schule. Ich besuchte die neunte Klasse einer Realschule, und schlug mich mehr schlecht als Recht durch.
Um ehrlich zu sein war ich kein besonders guter Schüler, was auch ein wenig an meiner Nervosität lag.
Sobald es ernst wurde bekam ich es mit der Angst zu tun. Mein Puls begann zu rasen, Schweiß trat aus allen Poren, und die Welt um mich herum schien auf seltsame Art und Weise zu flimmern.
Wenn ich zum Beispiel an die Tafel gerufen wurde begann der Horror, der meist erst dann endete als ich Atemnot bekam und mich unter dem Gelächter der übrigen Klasse wieder auf meinen Platz setzen durfte.
Wissen Sie wie schwer das für einen fünfzehnjährigen ist nicht einmal drei Wörter nacheinander rauszubringen ohne Angst zu haben direkt zu ersticken?
Das macht einen schon fertig.
Das und die Tatsache dass ich ansonsten ein totaler Nerd war, minderten natürlich meine Chancen viele Freunde zu finden. Genau genommen gab es da nur zwei.
Chiara, ein hübsches junges Mädchen das in meiner Straße wohnte und ebenfalls auf meine Schule ging, und Arthur, der griesgrämige alte Hausmeister.
Chiara war ein paar Klassen über mir, und so sah ich sie auch nur selten.
Oft saß ich in den Pausen, oder nach dem Unterricht alleine in einer Ecke und folgte meiner einen Leidenschaft, die fast schon eine Passion geworden war.
Der Natur, oder der Naturwissenschaft. Ich konnte stundenlang die Lichtbrechung der Sonnenstrahlen in einem Regentropfen beobachten, oder dem Wehen des Windes lauschen.
Meist war es dann Chiara die mich dann fand und mir mitteilte dass mein Zug schon abgefahren war, und ob ich nicht mit ihr nach Hause wolle.
Oder aber Arthur fand mich, und teilte mir mit dass der Unterricht schon seit einer Ewigkeit begonnen hatte.
Kurz und knapp gesagt: Ich war ein Loser, wenn es schon jemals einen gegeben hatte.
Doch das alles sollte sich schlagartig ändern.
Manchmal liege ich nachts noch lange wach, und denke, während ich an meine Zimmerdecke mit den Sternbildern sehe, an diese Zeit zurück.
Ich überlege mir was meine Klassenkameraden jetzt wohl sagen würden wenn sie mich sehen könnten.
Dann ertappe ich mich dabei wie mir ein kleines Lächeln über die Lippen läuft und ich schlafe wohlig ein.
Obwohl zwischen damals und heute nur knapp sechs Monate vergangen waren, erscheint es mir als lägen mehrere Jahre dazwischen, aber Zeit ist relativ, würde mein Freund Albert jetzt wohl sagen, und er hat recht.
Die Zeit ist dehnbar und formbar, aber vor allem eines. Sie ist für jeden anders.
Eine Woche kann wie im Flug vergehen, aber eine Stunde sich auch wie einen Monat anfühlen, und wenn man wie ich die Zeit manipulieren kann wird es wirklich kompliziert.
Mein Name ist Tom, und ich bin ein Bewacher der Zeit.
Alles begann als ganz normaler Schultag vor nicht einmal drei Monaten.
Wie jeden Morgen wachte ich unter lautem Summen meines Smartphone Weckers schon einige Minuten bevor meine Mutter mein Zimmer betrat auf.
Schlaftrunken griff ich nach dem Gerät und brachte es mit einer Wischbewegung über das Display zum Verstummen.
Es war der dreizehnte Juni. Vier Wochen vor meinem Geburtstag. Das Display des Handys zeigte sechs Uhr und zwei-und-dreißig Minuten an. Ich lächelte.
Seit jeher hatte ich eine Schwäche für seltsame Uhrzeiten.
Zwölf Uhr elf. Zwei Minuten nach fünfzehn Uhr. Oder fünf nach drei.
Je ausgefallener die Uhrzeit war, desto glücklicher war ich.
Eigentlich seltsam denke ich manchmal, da ich ansonsten eher ein Freund von Symmetrien bin.
Ob dies an einem Tick liegt, oder ob ich ganz einfach nur ein Faible für ordentliche Zahlenreihen habe kann ich bis heute nicht exakt sagen. Es würde auch nichts daran ändern.
So sortierte ich schon als Kind die vollen und leeren Sprudelflaschen bei uns zuhause so, dass sie in irgendeiner Form einen Sinn ergaben.
Ich versuchte auch immer eine gleiche Anzahl bestimmter Dinge zu essen.
Drei Rote Gummibärchen, drei Grüne, drei Gelbe, drei Weiße, drei Rote.
An diesem Morgen schwang ich meine Beine aus dem Bett und streckte mich ausgiebig, als meine Mutter die Tür öffnete, und zu mir herein spähte.
“Guten Mor… Oh du bist ja schon wach” sagte sie, was ich mit einem lauten Gähnen quittierte.
Sie schaltete das Deckenlicht an, und ich bewegte mich tapsend zu meiner Kommode.
Ich spürte ihren Blick auf meinem Rücken gerichtet, während sie jede meiner Bewegungen verfolgte. Leise schloss sie wieder die Tür und ging die Stufen hinunter in die Küche um das Frühstück vorzubereiten.
Ich folgte ihr wenige Minuten später, und setzte mich zu ihr an den Frühstückstisch.
Ich aß eine Schüssel Cornflakes mit Milch, und trank einen Orangensaft dazu.
Meine Mutter, die mir wie üblich gegenüber saß hatte einen Becher Kaffee in der Hand.
“Und freust du dich heute auf die Schule” begann sie einen Versuch der Konversation.
“Hm…” gab ich einsilbig zurück. In Wirklichkeit war es mir eins.
Es gab in der Schule nicht viel was ich wirklich mochte.
Ich war nicht sonderlich beliebt, wurde aber auch nicht übermäßig gehänselt. Ich war kein toller Sportler, und ein Frauenschwarm war ich erst recht nicht.
Mit meinen eins fünf-und-sechzig gehörte ich eher zu den kleineren meiner Klasse, und mein Haar das mir strohig am Kopf klebte sah auch nicht besonders attraktiv aus.
Einzig die Naturwissenschaften hatten es mir angetan.
Mathematik, Biologie, Chemie und vor allem die Physik.
Meine Mutter schien entweder mit dieser knappen Antwort zufrieden zu sein, oder gab den Ansatz einer Konversation schlichtweg auf. Jedenfalls machte sie keinerlei weitere Anstalten um mit mir, ihrem einzigen Kind ins Gespräch zu kommen.
Sie trank einen weiteren Schluck Kaffee und sah dann auf die Uhr an der Wand.
“Oh je Tom, schon so spät” sagte sie urplötzlich und verschüttete beinahe den Rest ihres Bechers, bevor sie ihn doch in einem Schluck leerte.
Sie hastete an mir vorbei in Richtung Badezimmer, und rief mir noch hinterher dass sie sich beeilen müsse.
Ich trank meine Müslischale, die ohne nur noch aus gesüßter Milch bestand aus, und stellte die Schale in die Spüle.
Sekunden später flog meine Zahnbürste förmlich durch meinen Mund während meine Mutter sich die Wimpern tuschte.
In unserem kleinen Reihenhaus gab es nur ein Badezimmer, und so teilten wir uns das kleine Waschbecken.
Die Organisation die für diesen Ablauf notwendig war, war einfach seit Jahren einstudiert, so dass es reibungslos funktionierte.
Augenblicke später verließen wir beide das Haus.
Meine Mutter wand sich nach rechts in Richtung der U-Bahn Haltestellen, ich ging nach links zu den Busbahnhöfen.
In der ersten Stunde hatte ich eine Freistunde und verbrachte die Zeit, anders als meine Klassenkameraden die sich wild grölend auf dem Schulhof tummelten, alleine auf der Treppe zum ersten Stock sitzend.
Da Chiara sich im Unterricht befand, sie hatte keine Freistunde und Artur auch nirgends zu sehen war, höchstwahrscheinlich reparierte er irgendeinen defekten Stuhl, oder ein defektes Pult, hatte ich Zeit meiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen.
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