Draußen deutete die Länge der Schatten auf den Einbruch der Dunkelheit hin. Der blasse Himmel hatte eine dunklere, blauere Weißschattierung angenommen.
»Ich verstehe nicht, was du sagst«, gestand Marguerite. »Ich weiß nicht einmal, ob du etwas gesagt hast.«
Subjekt atmete aus und ließ seine Flimmerhaare flattern.
Ja, es hat gesprochen, sagte eine Stimme.
Es war nicht die Stimme des Subjekts. Sondern sie kam von überall her. Von den Perlmuttsäulen oder aus den Schatten weiter im Innern. Aber das war noch nicht das Sonderbarste daran.
Das Sonderbarste war, dass Tessas Stimme zu ihr gesprochen hatte.
Elaine Coster kam herbeigelaufen, als Chris die Ambulanz verlassen wollte. »Whoa«, sagte sie, »Moment mal — wo wollen Sie hin?«
Sie wusste, dass er wegen des Verschwindens von Tess und Marguerite in Panik war. Die diensthabende Schwester hatte ihr die Sache mit den sich im Schnee verlierenden Fußspuren des Mädchens anvertraut. Elaine erschauerte bei dem Gedanken, dass Tess, ein ganz annehmbar nettes Kind, wie es schien, sich bei dieser Kälte draußen herumtrieb. Aber es würde jetzt rasch hell werden, und da sollte es nicht so schwer sein, das Mädchen zu finden, meinte Elaine, wenn nur Chris besonnen blieb und Geduld bewahrte. Was Marguerite betraf …
»Ich fahre zum Auge«, sagte Chris.
»Zum Auge? Entschuldigung, aber wozu, zum Teufel? Ari sagt, es wird gerade evakuiert.«
»Ich kann es nicht erklären.«
Sie packte seinen Arm, bevor er die Tür öffnen konnte. »Kommen Sie, Chris, damit wollen Sie mich doch nicht im Ernst abspeisen. Sie glauben, dass Tess und Marguerite im Auge sind? Wie sollte das möglich sein?«
Bitte, dachte Elaine, mach, dass dies nicht ein weiterer Fall von Blind-Lake-Wahnsinn ist.
»Tess ist nicht einfach nur da draußen herumspaziert. Ihre Fußspuren verlaufen schnurgerade und sie zeigen direkt in Richtung Auge.«
»Aber sie hören dann auf, die Fußspuren?«
»Ja.«
»Also ist sie vielleicht zur Ambulanz zurückgegangen. Immer genau in ihrer eigenen Spur, nicht wahr.«
»Rückwärts durch den Schnee? Im Dunkeln?«
»Na ja, was glauben Sie denn sonst? Wenn sie im Auge ist, wie ist sie da hingekommen? Sind ihr Flügel gewachsen, Chris? Oder vielleicht hat sie sich hingebeamt? Oder ist in ihrem Astralleib gereist?«
»Ich behaupte nicht, dass ich es begreife. Aber neulich, als sie auch plötzlich verschwunden ist, aus der Schule, ist sie zum Auge gegangen.«
»Glauben Sie wirklich, dass sie den weiten Weg gegangen ist, bei dem Wetter?«
»Ob sie gegangen ist, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass sie dort ist. Ich glaube, sie ist in Schwierigkeiten, und ich glaube, Marguerite würde wollen, dass ich sie suche.«
»Gedanken lesen können Sie auch? Ari und Schulgin und noch ein Haufen anderer Leute halten bereits Ausschau nach Tess und Marguerite. Lassen Sie die ihre Arbeit tun. Die verstehen sich besser darauf als Sie, Chris, hören Sie, hören Sie. Ich habe einen Anruf von einer meiner Kontaktpersonen bei der Sicherheitstruppe erhalten. Ein ganzes Scheißbataillon Militär mit schwerem Gerät und allen Schikanen ist gerade am Haupteingang aufgetaucht, und sie kommen rein. Begreifen Sie? Die Quarantäne ist vorbei! Ich weiß nicht, was als Nächstes kommt, aber nach aller Wahrscheinlichkeit wird Blind Lake bis zum Abend evakuiert sein — Sie, ich, Tess, Marguerite, alle. Ich will die Hauptstraße runter, und ich möchte, dass Sie mitkommen. Wir sind immer noch Journalisten, Chris. Und hier wartet eine Story auf uns.«
Er lächelte ihr auf eine Weise zu, die Elaine nicht gefiel: reuevoll und betrübt. Sie konnte große junge Männer mit traurigen Augen nicht ausstehen.
»Kümmern Sie sich drum, Elaine«, sagte er. »Es ist Ihre Story. Sie sind diejenige, die sie erzählen muss.«
Elaine sah zu, wie er seinen großen Körper ins Auto zwängte und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den unverdrossen weiterfallenden Schnee davonfuhr.
Sebastian Vogel, in seinen Wartezimmerstuhl gequetscht wie ein Buddha in einen Flugzeugsitz, sagte: »Ich glaube, jetzt endlich habe ich es kapiert.«
Elaine setzte sich verdrossen neben ihn. »Bitte. Keinen metaphysischen Dünnpfiff mehr.« Es gab jetzt einiges für sie zu tun: ihren Server, ihre Notizen und Unterlagen gut und vor allem sicher einzupacken, damit nicht irgendein bewaffneter Bürokrat auf die Idee kam, sie konfiszieren zu wollen. Sich darauf einzustellen, der Außenwelt entgegenzutreten, wie verändert diese auch sein mochte mit ihren Pilgern, abstürzenden Flugzeugen und Straßensperren östlich des Mississippi.
»Seit wir in Crossbank waren«, sagte Sebastian, »habe ich mich immer wieder gefragt, warum Sie diesen Auftrag angenommen haben. Eine etablierte, angesehene Wissenschaftsjournalistin lässt sich von einer, sagen wir's offen: zweitklassigen New Yorker Zeitschrift engagieren, um ein Thema zu bearbeiten, das vollkommen ausgelutscht ist, und dabei das Rampenlicht auch noch zu teilen mit einem spinnerten Theologen und einem diskreditierten Skandalautor. Ich habe das einfach nicht verstanden. Aber ich glaube, jetzt ist der Groschen gefallen. Es war wegen Chris, nicht wahr?«
»Ach, Sie können mich mal, Sebastian.«
»Sie haben sein Buch gelesen, seine Story in der Presse verfolgt, seine Zeugenaussage vor dem Kongressausschuss erlebt. Vielleicht besaßen Sie selber schon Hinweise auf Gallianos Probleme mit der Moral. Sie haben erlebt, wie Chris an den Pranger gestellt wurde, wussten aber, dass er trotz des ganzen Aufruhrs und der negativen Presse wahrscheinlich im Recht war. Sie waren neugierig auf ihn. Vielleicht hat er Sie daran erinnert, wie Sie selbst waren in seinem Alter. Sie haben den Auftrag angenommen, um ihn kennenzulernen.«
Das alles wäre weniger ärgerlich gewesen, wenn es der Wahrheit nicht entsprochen hätte. Elaine setzte ihren wildesten Fahr-zur-Hölle-Blick auf.
»War er eine Enttäuschung?«, sagte Sebastian. »Als persönliches Projekt?«
Ich habe keine Zeit für so was, dachte Elaine. Ihr war ein bisschen schwindlig vom Schlafmangel. Vielleicht konnte sie hier einfach sitzen bleiben, bis die Soldaten kamen, sie zu holen. Alle wirklich wichtigen Informationen und Erkenntnisse waren schließlich auf ihrem Pocket-Server gespeichert, und wenn sie ihr den wegnehmen wollten, mussten sie ihr dazu schon die kalten, toten Finger brechen. »Als ich Chris kennenlernte, dachte ich, sie hätten ihn kleingekriegt. Er war offensichtlich unglücklich, er schrieb nichts, er war ein bisschen allzu großzügig im Konsum von weichen Drogen, und er trug eine Last von Schuldgefühlen mit sich herum, die eindeutig viel zu groß war für ihn.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das alles nur von seiner Erfahrung mit Galliano herrührt.«
»Wahrscheinlich nicht. Ich dachte nur …«
»Sie wollten helfen«, sagte Sebastian sanft.
»Ja. Ich bin eine Scheißheilige. Und jetzt halten Sie den Mund.«
»Sie wollten ihm ein Stück von Ihrem Zynismus abgeben.«
»Er wäre ein besserer Journalist, wenn er lernen würde, sich die Dinge nicht so zu Herzen zu nehmen.«
»Allerdings nicht unbedingt ein besserer Mensch.«
»Darüber diskutiere ich nicht.«
»Was er brauchte, Elaine, und das ist jetzt nicht böse gemeint, aber was er wirklich brauchte, das konnten Sie ihm nicht geben.«
»Sagte der Guru.« Sie biss sich auf die Lippe. »Und was glauben Sie? Hat er es gefunden? Das, was er braucht, was immer es ist?«
»Ich glaube, er ist gerade in diesem Moment auf der Suche danach«, sagte Sebastian.
Chris traf auf der Straße zum Auge auf Gegenverkehr. Mitarbeiter der Nachtschicht, wie er vermutete, die die Anlage verlassen hatten, als Gerüchte vom Ende der Quarantäne die Runde machten.
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