Doch noch während sie diesen Gedanken nachhing, spürte sie, wie Ruhe und Gelassenheit von ihr Besitz ergriffen. Es war ein Gefühl, wie sie es hatte, wenn sie Tess zu Bett brachte, sie unter die Decke steckte, ihr aus den alten seltsamen Kinderbüchern vorlas (bevor Tess dafür zu anspruchsvoll geworden war), die sie selbst so faszinierend gefunden hatte: Zauberer von Oz, Der kleine Hobbit, Harry Potter. Marguerites Müdigkeit schwand (vielleicht war das ein Zauber, den Mirror Girl bewirkte), sie schloss die Augen und fragte sich, was sie dem Subjekt über die Erde erzählen könnte, nicht über deren Geschichte oder Geografie, sondern über ihre, Marguerites, eigene Erfahrung mit ihr. Wie erschreckend fremd ihm das zweifellos erscheinen musste. Ihre Geschichte: Geboren auf die für die menschliche Biologie übliche Art von menschlichen Eltern, stiegen ihre Erinnerungen aus einem undeutlichen Nebel aus Wiegen und Decken auf; sie lernte ihren Namen (in den ersten zwölf Jahren ihres Lebens hatte sie »Margie« geheißen), sah sich der Langeweile, dem Schrecken und den seltenen Freuden des Schulbesuchs ausgesetzt (Miss Marmette, Mrs. Foucek, Mrs. Bland, die strengen Gottheiten der Klassen 1,2,3); der Wechsel der Jahreszeiten, die Namen der Monate, September und Schule, November und die ersten wirklich kalten Tage, der Januar dunkel und oft quälend, die stürmischen und schmelzenden Monate bis Juni, der Juni heiß und voller Versprechungen, die flüchtigen Freiheiten des August; Kindheitsdramen: Blinddarmentzündung, Blinddarmoperation, Grippe, Lungenentzündung; begonnene, aufrechterhaltene oder gekündigte Freundschaften; eine zunehmende Wahrnehmung ihrer Eltern als zweier realer, gesonderter Menschen, die mehr taten, als sich um ihre Bedürfnisse zu kümmern: ihre Mutter, die kochte, den Haushalt besorgte, große Bücher las und Kohlestiftzeichnungen anfertigte (abstrahiertes dörfliches Ambiente, in einem imaginären Spanien gelegen, sonnenüberflutet); ihr Vater, zurückhaltend und gleichermaßen belesen, ein presbyterianischer Pfarrer, ein volltönender Herrscher der Sonntage, doch zu Hause voller Sanftheit; oft war er Marguerite als ein einsamer Mensch erschienen, ein einsamer Sucher, ein Sucher nach Gott, nach dem inneren Zusammenhalt des Kosmos, dem Sinngerüst, das er sich ausmalte, wenn er die synoptischen Evangelien las, und an das er, wie er ihr einmal gestanden hatte, nie recht hatte glauben können; ihre eigene langsam erwachende Neugier auf die Welt, ihre Verortung in der Zeit und ihre Stellung in der Natur, eine rein wissenschaftliche Neugier, jedenfalls nach ihrem Verständnis von »Wissenschaft«, gewonnen aus Videosendungen und Science-Fiction-Romanen: Wie befriedigend es war, alles zu wissen, was allgemein über Planeten bekannt war, über Monde, Sterne, Galaxien, ihren Anfang und ihr Ende; und selbst an den offenen Fragen konnte man sich erfreuen, weil es ein gemeinsames, anerkanntes und systematisch betriebenes Projekt war, sie einer Antwort zuzuführen; ganz anders die zerbrechliche Religiosität ihres Vaters, über die er nicht einmal gern redete, denn sein Glaube, so ihre Vermutung, war wie ein altes, kostbares Teeservice, schön und ehrwürdig, durfte aber weder Licht noch Hitze ausgesetzt werden; auch wusste sie, dass er stolz war auf die wachsende Liste ihrer Erfolge (alles Einser außer in Musik und Sport, wo ihr ihre Ungeschicktheit im Wege war; die Mathe-Medaillen und Jugend-forscht-Auszeichnungen; die Stipendien): die plötzlich einsetzenden Peinlichkeiten der Pubertät, das allmähliche Verstehen des weiblichen Körpers, der ihr mancherlei Überraschungen zu bereiten begann; sie musste lernen, die Blutflecken in ihrer Unterwäsche zur Biologie der Fortpflanzung in Beziehung zu setzen, Ei- und Samenzellen, Eierstöcke und Blütenstaub und die lange Kette von Geschlechtsakten, die sie mit dem gemeinsamen Ahnen alles Lebendigen auf der Erde verband; ihre ersten tastenden Auseinandersetzungen mit dem Erotischen (ein Junge namens Jeremy, im möblierten Keller seines Hauses, während seine Mutter oben eine Party gab; ein Junge namens Elliot, in der Wohnung seiner Eltern, während diese wegen Monsunregens auf einem Flughafen irgendwo in Thailand festsaßen; doch es wurde beide Male nichts Ernstes daraus); ihre frühe Begeisterung über die O/BEK-Bilder von HR8832/B, Meereslandschaften wie die viktorianischen Farbdruckillustrationen von Melville-Büchern (Taipi, Omu), eine Faszination, die sie zur Astrobiologie führte; das Princeton-Stipendium (bei der Schulabschlussfeier hatte ihre Mutter vor Stolz geweint, am selben Abend aber den ersten einer Reihe von ischämischen Anfällen erlitten, die ein halbes Jahr später in einem tödlichen Schlaganfall kulminierten); bei der Beerdigung, neben ihrem Vater stehend, hatte sie sich gezwungen, aufrecht zu bleiben und nicht einfach niederzusinken und die Welt verschwinden zu lassen; eine Uni-Affäre mit einem Mann namens Mike Okuda, der ebenfalls besessen war von den O/BEK-Bildern und der ihr einmal seine Paranoia anvertraute, dass er sich vorstellte, er werde von anderen Welten aus heimlich beim Geschlechtsakt beobachtet; die Trennung von ihm — für sie schmerzlich, für ihn offenbar weniger —, als er einen Job an der Westküste antrat, um Hall-Effekt-Motoren zu entwickeln, und ihre Erkenntnis, dass sie sich niemals spontan verlieben würde, sondern die Liebe aus ihren einzelnen Bestandteilen selbst würde konstruieren müssen, mithilfe eines willigen, gleichgesinnten Partners; ihre Lehrzeit in Crossbank, wo sie auf der Grundlage von Bildern, die von der Beobachtung erstellt wurden, vorläufige Klassifikationssysteme für unterirdische Pflanzenspezies entwarf (das vierlappige Peristem, die von einem Sturm freigelegte blasse Pfahlwurzel); ihre erste Begegnung mit Ray, als sie ihre Bewunderung für ihn mit Liebe verwechselte, und ihre ersten körperlichen Intimitäten, wo sie bei Ray eine Zurückhaltung spürte, die fast an Widerwillen grenzte und für die sie die Schuld bei sich suchte; der Verfall ihrer Ehe (sein ewiges Misstrauen, selbst dann, wenn sie nur kranke Freunde besuchen wollte, seine Distanziertheit während ihrer Schwangerschaft) und die Dinge, die sie in dieser schweren Zeit am Leben hielten (ihre Arbeit, lange Spaziergänge vom Haus weg, winterliche Sonnenuntergänge); das Platzen der Fruchtblase, die Wehen und dann die Geburt, die sie benommen und unter Schmerzmitteln im Kreißsaal eines Krankenhauses erlebte, während Ray draußen im Flur einen lautstarken Streit mit einer Schwesternhelferin hatte; das Wunder, das Tess darstellte, die Faszination, das Gefühl, an etwas Göttlichem teilzuhaben (wie ihr Vater sich vielleicht ausgedrückt hätte) im Tausch der Rollen, von der Tochter zur Mutter, Zeugin all dessen, was sie einst selbst erlebt hatte; ihre zunehmende Frustriertheit, als die Anlage in Blind Lake Bilder einer neuen, bewohnten Welt zu gewinnen begann, während sie weiterhin Seetang und Lagunenblumen katalogisierte; die Scheidung, der erbitterte Streit ums Sorgerecht, eine wachsende körperliche Furcht vor Ray, die sie als Paranoia abtat (was sie nicht hätte tun sollen: es war eine echte Schlange); der Wechsel nach Blind Lake, Erfüllung und Einsamkeit, die Abriegelung, Chris …
Wie konnte sie all das in Worte fassen? Es war ja keine einheitliche, in sich geschlossene Erzählung. Sondern eine fraktale Geschichte, Geschichten innerhalb von Geschichten; wenn man eine auspackte, kamen gleich alle anderen mit zum Vorschein, quod est superius est sicut quod est inferius … Und — völlig klar — das Subjekt würde kein Wort verstehen.
»Doch, das tut es«, sagte Mirror Girl.
»Was tut es?«
»Es versteht dich. Einiges jedenfalls.«
»Aber ich habe ja gar nichts gesagt.«
»Doch, doch. Wir haben für dich übersetzt.«
Interessant, dieser Pluralis Majestatis — »wir«, Mirror Girl und ihre Schwestern auf den anderen Welten, nahm Marguerite an … Aber das Subjekt bewegte sich noch immer nicht.
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