Wenn ich nicht hier bin, dachte Marguerite, wo bin ich dann?
Die Decke des Gebildes schützte vor der direkten Einstrahlung des Sonnenlichts. »Gebilde«, dachte sie, das war eins von diesen Ausweichwörtern, die die Leute in der Beobachtung so schätzten; aber konnte man dieses Gebilde wirklich als »Gebäude« bezeichnen?
Es gab keine richtigen Wände, nur reihenweise Säulen (schneckenweiß und korallenrosa), angeordnet in unregelmäßigen Bögen, die nach oben hin zusammenliefen, um ein Dach zu bilden. Weiter im Innern verdichteten sich die Schatten bis zur Undurchdringlichkeit. Der Fußboden bestand schlicht aus verwehtem Sand. In der Hummerstadt gab es nichts, das diesem Gebilde geähnelt hätte. Es konnte hier gewachsen sein, dachte sie, im Laufe der Jahrhunderte. Sie berührte eine der Säulen. Sie fühlte sich kühl und leicht irisierend an, wie Perlmutt.
Als ihre Hand zu kribbeln begann, zog sie sie rasch zurück.
Natürlich war das alles ganz unmöglich, und nicht nur darum, weil sie normal atmete auf der Oberfläche eines Planeten, der keine für den Menschen geeigneten Lebensbedingungen bot. Die O/BEK-Bilder von UMa47/E waren einundfünfzig Lichtjahre weit gereist. Was man auf dem Bildschirm beobachten konnte, war fast buchstäblich Geschichte. So etwas wie Simultaneität gab es nicht, es sei denn, die O/BEKs hätten gelernt, sich über die grundlegenden Gesetze des Universums hinwegzusetzen.
Vielleicht war es besser, dieses Erlebnis als eine besonders ausgefeilte Form von virtueller Realität zu interpretieren, als eine Art interaktiver Beobachtung, als einen lebhaften Traum.
So instabil dieses Erklärungsgerüst war, verlieh es ihr doch den Mut, das Subjekt direkt anzublicken.
Das Subjekt war anderthalbmal so groß wie Marguerite. In keiner Weise hatte ihre ganze bisherige Beobachtung sie auf seine schiere animalische Massigkeit vorbereitet. Das gleiche Gefühl hatte sie gehabt, als sie als Achtklässlerin zum ersten Mal in einem Streichelzoo gewesen war. Tiere, die im Fernsehen ganz unschuldig aussahen, erwiesen sich als größer, schmutziger, übelriechender und sehr viel unberechenbarer, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie waren auf so verstörende Weise sie selbst, so vollkommen gleichgültig gegen ihr vorgefasstes Bild.
Das Subjekt war entschieden es selbst. Von seiner aufrechten Haltung auf zwei Füßen abgesehen war nichts Menschliches an ihm. Aber es hatte auch keine Ähnlichkeit mit einem Insekt oder einem Krustentier, trotz des albernen »Hummer«-Etiketts, das man ihm angeheftet hatte.
Seine Füße waren breit, flach, ledrig, zehen- und nagellos. Zum Stehen gemacht, nicht zum Rennen. Nach seiner langen Wanderung waren sie mit Staub und Schmutz überzogen, und an einigen Stellen war die kieselartige Oberhaut zu rauer Glätte abgeschliffen. Marguerite fragte sich, ob sie ihm wohl wehtaten.
Seine Beine waren nicht länger als ihre eigenen, aber fast doppelt so dick. Sie hatten etwas enorm Muskulöses an sich, ähnelten zwei mit ziegelrotem Leder bezogenen Baumstämmen. Die Beine trafen nahtlos im Schritt zusammen, wo keins der komplexen Zubehörteile menschlicher Sexualität anzutreffen war; keine große Überraschung vielleicht, mag es doch weitaus geeignetere Stellen zur Unterbringung von Geschlechtsteilen geben, wenngleich bislang nicht einmal nachgewiesen war, dass das Subjekt oder seinesgleichen überhaupt so etwas wie Genitalien besaß.
Sein Brustkorb weitete sich zur Form einer sehr dicken Scheibe, an der die Arme befestigt waren. Die Arbeitsarme waren schlank, gelenkig und an den Enden ausgestattet mit Vorrichtungen, die einer menschlichen Hand durchaus ähnelten — drei Finger und ein opponierbares Glied, quasi der Daumen —, wenngleich die Gelenke völlig verkehrt waren. Die stämmigen, zum Greifen der Nahrung dienenden Arme — sie reichten grade mal von den Schultern bis zum Mund — waren da schon sonderbarer, ließen sich ebenso als nach außen verlagerte Kieferzangen wie als zusätzliches Gliedmaßenpaar interpretieren. Anstelle von Händen besaßen diese sekundären Arme knochige, besteckartige Gebilde zum Schneiden und Zermahlen von pflanzlichen Materialien.
Subjekts Kopf war eine bewegliche Kuppel mit einem Flechtwerk aus losem Fleisch an der Stelle, wo die menschliche Anatomie einen Hals aufwies. Sein Mund war ein vertikaler rosafarbener Schlitz, hinter dem sich eine lange, raue, wohl auch zum Greifen geeignete Zunge verbarg. Die Augen, von blauviolettem Knorpel eingefasst, standen fast so weit auseinander wie bei einem Vogel, waren übrigens nicht rein weiß, wie Marguerite nun bemerkte, sondern eher gelblich, wie sehr alte Klaviertasten. Eine innere Struktur des Auges war nicht zu erkennen, keine Pupille, keine Hornhaut; es mochte sich bei diesen Augen um gänzlich unorganisierte Bündel von lichtempfindlichen Zellen handeln, oder aber ihre Struktur verbarg sich unter einer partiell undurchsichtigen Oberfläche, einem dauerhaft geschlossenen Augenlid vergleichbar.
Welchem Zweck der orangefarbene Hahnenkamm auf seinem Kopf diente, hatte bislang niemand bestimmen können. Auf der Erde waren derartige Merkmale in der Regel Lockmittel beim Paarungsverhalten, aber da sämtliche Individuen in Subjekts Volk einen Kamm besaßen, war es kaum sinnvoll, diesem eine geschlechtliche Funktion zuzuordnen.
Das auffälligste — oder am auffälligsten sonderbare — Merkmal am Körper des Subjekts war die senkrechte Aushöhlung, die mitten über seinen Brustkorb verlief. Sie wurde gemeinhin als Atmungsöffnung interpretiert. Sie war so lang wie Marguerites Unterarm und öffnete und schloss sich in regelmäßigen Abständen wie ein nach Luft schnappender, lippenloser Mund. (In einem seiner niveauloseren Momente hatte Ray behauptet, sie sehe aus wie »eine von Krankheit zerfressene Vagina«.) Wenn sie sich öffnete, konnte Marguerite dahinter poröses, bienenwabenähnliches Gewebe erkennen, gelblich und feucht. Feine silbergraue Flimmerhaare bildeten eine fransenartige Umrandung.
Ich bin vollkommen sicher, dachte sie, aber wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie Angst vor dem Subjekt, Angst vor seiner offensichtlichen Massigkeit und der dieser innewohnenden animalischen Stärke. Angst sogar vor seinem leicht organischen Geruch, der süßlich intensiv und sehr unangenehm war, wie der Geruch einer Zitronenschale, die schon grün vom Schimmel ist.
Nun denn, dachte Marguerite, was jetzt? Tun wir so, als sei dies eine reale Begegnung? Sprechen wir?
Konnte sie sprechen? Die Furcht hatte ihr den Mund ausgetrocknet, ihre Zunge fühlte sich an wie ein Wattebausch.
»Ich heiße Marguerite«, flüsterte sie. »Ich weiß, dass du mich nicht verstehst.«
Vielleicht verstand es nicht einmal das Konzept von gesprochener Sprache. Für einen langen Augenblick stand sie da und starrte ihn an. Sein Schweigen sprach möglicherweise Bände. Vielleicht sprach er eine Sprache der Bewegungslosigkeit.
Aber es war nicht vollkommen bewegungslos. Sein Atmungsschlitz weitete sich und entließ ein fast unhörbares keuchendes Geräusch. Konnte das Sprache sein? Es klang mehr nach Atembeschwerden.
Wie gottverdammt lachhaft, dachte Marguerite, hierzusein — wo immer das war — und aus welchem Grund auch immer —, nur um wiederum mit der Unmöglichkeit jeglicher Kommunikation konfrontiert zu sein. Ich kann nicht einmal erkennen, ob es spricht oder ob es stirbt.
Das Subjekt beendete seinen Diskurs, falls es denn einer war, indem es einen Schwall nach saurer Milch riechenden Atem ausstieß.
Davon abgesehen, hatte es sich noch immer nicht bewegt.
Falls dies eine Gelegenheit war, dachte Marguerite, und nicht lediglich eine Halluzination, dann war sie vertan und verschwendet. Ihre Furcht mischte sich mit Frustration. Ihm so unglaublich, so unglaubwürdig nahe zu sein — und doch so fern wie je. Immer noch stumm, immer noch taub.
Читать дальше