Robert Charles Wilson
Julian Comstock
» Wir betrachten die Vergangenheit im Licht der Gegenwart, und die Dinge ändern ihr Aussehen, wenn die Schatten länger werden oder die Sehschärfe abnimmt.«
— James Anthony Froude
» Suche nicht nach Rosen im Garten des Attalus oder nach bekömmlichen Blüten unter giftigen Pflanzen. Und da kaum jemand schlecht ist, aber manche an ihm Schaden nehmen, riskiere nicht die Ansteckung durch Nähe und meide den Schatten der Verderbtheit.«
— Sir Thomas Browne
» Kronen haben gewöhnlich Dornen.«
— Arthur E. Hertzler
Dieses Buch ist, was er womöglich nicht gutgeheißen hätte, in Respekt und Dankbarkeit Mr. William Taylor Adams in Massachusetts gewidmet.
Jetzt und hier will ich Leben und Abenteuer des Julian Comstock niederschreiben, bekannt als Julian der Agnostiker oder (nach seinem Onkel) Julian der Eroberer.
Leser, denen der Name vertraut ist, erwarten natürlich Szenen von Blut und Verrat, auch solche vom »Krieg in Labrador« und von Julians Zusammenstoß mit der Church of the Dominion . Ich kenne die Geschehnisse aus erster Hand und aus größerer Nähe, als mir lieb sein konnte, und sie werden alle in den fünf »Akten« beschrieben, die gleich folgen. Ich bin mit Julian Comstock den ganzen Weg vom Eden der Kiefernborke, in dem ich zur Welt kam, nach Mascouche, Lake Melville, Manhattan und noch seltsameren Orten gereist; ich habe Aufstieg und Niedergang von Menschen und Regierungen erlebt; und ich bin manchen Morgen aufgewacht und habe dem Tod ins Auge geblickt. Manches, was ich niederschreiben will, ist weder erfreulich noch schmeichelhaft, und ich zittere ein wenig bei dem Gedanken, es wieder aufleben zu lassen, aber ich habe nicht vor, auch nur eine einzige Begebenheit auszulassen — wir waren, was wir waren, und wir wurden, was wir wurden, und der Leser mag entscheiden, ob uns die Tatsachen zur Ehre oder zur Schande gereichen.
Doch ich will die Geschichte da aufgreifen, wo sie für mich begann — in einer Stadt im nördlichen Westen, als Julian und ich noch jung waren, jung und unbekannt.
ERSTER AKT
Ein Eden der Kiefernborke oder: Der Zug mit dem Karibugeweih
(Weihnachten 2172)
»Und in Feuern, wie sie für Ketzer entfacht wurden, wird man auch Philosophen verbrennen.«
— Hume (ein Philosoph)
Im Oktober 2172 — dem Jahr, als der Wahl-Zirkus in die Stadt kam — ritten Julian Comstock und ich zusammen mit seinem Mentor Sam Godwin zur Halde östlich von Williams Ford, wo ich Besitzer eines Buches wurde und Julian mich in eine seiner Häresien einweihte.
Die Jahreszeiten in Athabaska schienen damals von einer unbeirrbaren Pünktlichkeit. Die Sommer waren lang und heiß, der Dezember brachte Schnee und jähe Frosteinbrüche, und in der Regel war der River Pine spätestens am 1. März wieder frei von Eis. Frühling und Herbst waren im Grunde nur Vermittler. Heute war ein herrlicher Herbsttag — die Luft war frisch, aber nicht kalt, die tief stehende Sonne von keinem Schleier getrübt. Ein Tag, den wir eigentlich in Sam Godwins Obhut hätten verbringen sollen; wir hätten Kapitel aus Dominion History of the Union gelesen oder aus War and How to Conduct It von Otis. Doch Sam war kein unerbittlicher Lehrmeister, und das freundliche Wetter legte nun einmal einen Ausflug nahe. Also suchten wir die Stallungen auf, wo mein Vater arbeitete, zogen die Pferde heraus und ritten schließlich vom Landsitz, mit einem Lunchpaket aus Schwarzbrot und Räucherschinken im Rucksack.
Wir kehrten den Hügeln und der Stadt den Rücken und folgten der Wire Road nach Süden. Julian und ich ritten voraus, während Sam im Passgang folgte, die Pittsburgh-Büchse im Sattelhalfter. Nichts deutete auf eine Gefahr hin, doch Sam Godwin liebte keine Überraschungen — falls er eherne Gebote hatte, dann hießen sie SEI AUF DER HUT und SCHIESSE ALS ERSTER und vermutlich ZUM TEUFEL MIT DEN KONSEQUENZEN. Sam, der fast fünfzig Winter zählte, trug einen dichten braunen, mit weißen Haaren durchsetzten Bart und den noch hinnehmbaren Rest einer Uniform der Kalifornischen Armee. Sam war fast wie ein Vater zu Julian; dessen leiblichen Vater hatte man vor Jahren aufgeknüpft, und in der letzten Zeit war Sam wachsamer denn je, aus Gründen, über die er schwieg, in meiner Gegenwart zumindest.
Julian war in meinem Alter — siebzehn —, und wir waren etwa gleich groß, doch darin erschöpfte sich unsere Ähnlichkeit. Julian war als Aristokrat geboren oder ein Eupatride, wie man im tiefen Osten sagte, während meine Familie der Pächterklasse angehörte. Sein Gesicht war glatt und blass; meines war dunkel, eine Mondlandschaft, zernarbt von den gleichen Pocken, die meine Schwester Flaxie’63 ins Grab gebracht hatten. Sein strohblondes Haar war lang und beinah mädchenhaft sauber; meines war schwarz und widerspenstig, Mutter hatte es mit ihrer Nähschere zu lauter Stoppeln geschnitten, und ich wusch es einmal die Woche — öfter im Sommer, wenn der Bach hinter dem Cottage wärmer wurde. Julians Sachen waren aus Leinen und Seide mit Knöpfen aus Messing, maßgeschneidert; mein Hemd und meine Hose waren aus grobem Hanfstoff und passten ganz gut, sahen aber nicht nach dem Werk eines New Yorker Schneiders aus.
Und trotzdem waren wir Freunde und das schon seit drei Jahren, seit wir uns zufällig in den Hügeln westlich des Duncan-und-Crowley-Landguts begegnet waren. Wir waren auf der Jagd gewesen, Julian mit seiner Büchse und ich mit einem schlichten Vorderlader, und im Wald kreuzten sich unsere Wege und wir kamen ins Gespräch. Beide liebten wir Bücher, vor allem die Jungenbücher aus der Feder eines Charles Curtis Easton. [1] Dem ich begegnen sollte, als er sechzig Jahre alt und ich noch ein Neuling im Buchgeschäft war — doch ich greife vor.
Ich hatte damals ein Exemplar von Eastons Against the Brazilians dabei, das ich ohne Erlaubnis aus der Gutsbücherei entliehen hatte — Julian kannte das Buch, versprach aber hoch und heilig, mich nicht zu verraten, da er unbedingt mit jemandem darüber reden wollte, der es genauso toll fand wie er —, kurz, er tat mir einen Gefallen, ohne dass ich ihn darum gebeten hatte; und wir wurden, obwohl wir so verschieden waren, unzertrennliche Freunde.
Damals ahnte ich noch nicht, wie sehr er die Philosophie und solche kleinen Übertretungen liebte. Hätte ich es geahnt, es wäre mir vermutlich egal gewesen.
Heute verließ Julian die Wire Road gen Osten und folgte einem Weg, der von einem Weidezaun flankiert wurde, an dem sich dicht an dicht Brombeerranken hochgehangelt hatten. Der Weg verlief zwischen Weizen- und Kürbisfeldern, die frisch abgeerntet waren. Nicht lange, und wir kamen an den primitiven Hütten der Lohnarbeiter vorbei, deren halbnackte Kinder von der staubigen Seite herübergafften, und ich vermutete, dass es zur Halde ging, denn wo sonst hätte es auf diesem Weg hingehen sollen? — Es sei denn, wir würden noch stundenlang weiterreiten, den ganzen weiten Weg zu den Ruinen der alten Ölstädte, die noch aus den Tagen der Falschen Drangsal stammten.
Die Halde lag, um Wilderei und Übergriffe zu erschweren, ein Stück weit von Williams Ford entfernt. Für die Halde galt eine strenge Hackordnung. Es funktionierte so: Professionelle, vom Landgut angeheuerte Kipper brachten ihre Ausbeute aus den Ruinen zur Halde, einem Geviert aus Kieferpalisaden mitten im offenen Grasland. Hier wurden die neu eintreffenden Sachen vorsortiert und Reiter zum Landsitz geschickt, um die Hochgeborenen über die neuesten Funde zu unterrichten. Dann ritten ein paar Aristokraten (oder ihre Getreuen) aus, um die besten Stücke abzuholen. Tags darauf durfte die Pächterklasse das Übrige nach Brauchbarem durchforsten; Lohnarbeiter, die den weiten Weg nicht scheuten, konnten dann im Rest stöbern.
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