»Doch«, sagte Mirror Girl mit Tessas Stimme. »Es spricht.«
Tatsächlich? Seine Bauchöffnung zog sich zusammen, seine Flimmerhaare machten Bewegungen wie Wind auf einem Weizenfeld. In der Luft war plötzlich ein Geruch von heißem Teer, Lakritze, abgestandener Milch.
»Mag wohl sein, dass es spricht. Aber ich verstehe trotzdem nichts.«
»Dann schließ die Augen und hör zu.«
»Ich kann nichts hören.«
»Hör einfach zu.«
Mirror Girl ergriff ihre Hand, und da flutete Wissen in sie hinein: zu viel Wissen, ein Tsunami an Wissen geradezu, viel zu viel, um es ordnen oder verstehen zu können.
(»Es ist eine Geschichte«, flüsterte Mirror Girl. »Nichts weiter als eine Geschichte.«)
Eine Geschichte, aber wie sollte sie sie erzählen, wenn sie sie selber nicht verstand? Ein Sturm tobte in ihrem Kopf. Ideen, Eindrücke, Wörter, so vergänglich wie Träume, in Gefahr, sofort zu verschwinden, falls sie sie nicht in ihrem Gedächtnis fixierte. In ihrer Not dachte sie an Tess: Wenn dies eine Geschichte war, wie würde sie sie Tess erzählen?
Der ordnende Impuls war hilfreich. Sie stellte sich vor, an Tessas Bett zu sitzen und ihr eine Geschichte von dem Subjekt zu erzählen. Es wurde geboren — aber das war nicht der richtige Ausdruck; »zu neuem Leben erweckt« war besser — es wurde zu neuem Leben erweckt — nein.
Fang noch mal an.
Das Subjekt …
Die Person, die wir das Subjekt nennen …
Die Person, die wir das Subjekt nennen (sagte Marguerite in ihrer Vorstellung), war schon lange am Leben, bevor es annähernd zu dem wurde, was es ist, lange bevor es imstande war, zu denken oder sich zu erinnern. Es gibt Geschöpfe — du erinnerst dich, Tess —, die in den steinernen Wänden der großen Stufenpyramiden der Stadt leben, in verborgenen Gehegen. Kleine Tiere, kleiner als junge Kätzchen, und sehr, sehr viele von ihnen; ihre Nester sind wie winzige Städte innerhalb der eigentlichen Stadt. Diese kleinen Tiere werden lebend und ungeschützt geboren, wie Säugetiere oder Beuteltiere; sie kommen nachts aus ihrem Bau und nähren sich an den Blutnippeln des Subjekts und seinesgleichen, um vor Morgengrauen wieder in den Wänden zu verschwinden. Sie leben und sterben und vermehren sich untereinander, und für gewöhnlich hat es sich damit. Für gewöhnlich. Aber alle dreizehn Jahre, so wie auf UMa47/E Jahre berechnet werden, erzeugt das Volk des Subjekts in seinen Körpern eine Art genetisches Virus, das einige von den Geschöpfen infiziert, die von ihnen genährt werden, und diese infizierten Geschöpfe machen eine dramatische Veränderung durch. Auf diese Weise beginnen die Individuen aus Subjekts Volk ihr Leben: als Virusinfektion in einer anderen Spezies. (Keine Infektion im eigentlichen Sinne: sondern eine Symbiose — kennst du diesen Ausdruck, Tess? —, vor Millionen von Jahren in Gang gesetzt, oder Geschlechts-Dimorphismus ins bizarre Extrem getrieben; das Volk des Subjekts hatte diese Frage diskutiert, ohne sie jedoch klären zu können.) Subjekt begann sein Leben auf diese Weise. Als eins von mehreren tausend Jährlingsgeschöpfen, die plötzlich zu groß und zu ungeschickt waren, um in ihren Bau zurückzukehren, wurde es aufgelesen und in einem Lyzeum, das tief unter der Stadt lag, zu einem intelligenten Wesen erzogen. An diesen Ort bewahrte es liebevolle Erinnerungen: Wärme, die Feuchtigkeit von Sickerwasser und die Fressgelage in den Nahrungskammern; die Entwicklung seines Körpers zu etwas Neuem, Großem und Kräftigem; das Wissen, das ohne Zutun in seinem Gehirn wuchs, und das Wissen, das es, jeden Morgen ein neues Zimmer des Verstandes betretend, von Lehrern erwarb. Seine schrittweise erfolgende Integration in das Alltagsleben der Stadt, indem es Arbeiter ersetzte, die entweder gestorben waren oder ihre Fähigkeiten eingebüßt hatten. Allmählich begriff es, dass die Stadt eine große Maschine war und dass es für das Wohl dieser Stadt arbeitete, wie auch umgekehrt die Stadt unermüdlich um sein Wohl bemüht war.
Allmählich begriff es auch die Stellung der Stadt in der Geschichte seiner Art und der Geschichte der Welt. Es gab viele Städte, die der seinen ähnelten, aber keine zwei waren sich gleich, eine jede war einzigartig. Einige Städte waren Bergbaustädte, andere waren Fertigungsstädte; und einige Städte waren Orte, an die die Alten und Gebrechlichen sich begaben, um in Frieden und Muße zu sterben. Es gab auch ausländische Städte auf den Kontinenten weit jenseits des flachen Meeres, wo die Türme wie gewaltige Steinblöcke aussahen und entweder aus Backstein erbaut oder in einen Berg hineingemeißelt worden waren. Oft sehnte sich das Subjekt danach, diese Orte mit eigenen Augen zu sehen. Bis zu seinem zweiten Fruchtbarkeitszyklus hatte es seine Heimatstadt, die Stadt des Himmels, bereits mehrfach verlassen, um zu deren nördlichen Handelspartnern zu reisen, der sandsteinroten Stadt des Aussonderns und der rauchschwarzen Stadt der Unermesslichkeit, doch es wusste, dass es, sofern keine außergewöhnlichen und unwahrscheinlichen Umstände eintraten, niemals eine noch weitere Reise würde machen können. Es merkte, dass ihm das Reisen gefiel. Ihm gefiel das Gefühl, an einem kalten Morgen in der Ebene zu erwachen. Ihm gefielen die Schatten der Felsen in der Abenddämmerung.
Seine Fruchtbarkeitszyklen bedeuteten ihm nicht viel. Im Laufe seines Lebens, das wusste es, würde es allenfalls ein, zwei echte Beiträge zur genetischen Kontinuität der Stadt leisten, indem sich seine viralen Geschlechtszellen mit anderen in den Körpern der nächtlichen Esser vermengten, um morphologisch aktiv zu werden. Dennoch war es auf abstrakte Weise befriedigend zu wissen, dass es seine persönliche Substanz ins Meer des Zufalls geworfen hatte, aus dem sie, ohne dass es das wüsste, als ein neuer Bürger mit neuen und einzigartigen Ideen und Gerüchen zurückfließen konnte. Es musste dabei an die sich weit in die Vorzeit erstreckende Geschichte denken, wie es sie im Lyzeum gelernt hatte. Die Stadt war schon sehr alt. Die Geschichte seines Volkes war lang und wechselhaft.
Sie hatten viel gelernt in ihren Jahrtausenden, nachdem sie von der Natur zu schläfriger Wissbegier erweckt und zunächst zur Fertigung von Dingen mithilfe der Finger gelangt waren. Sie machten sich mit den Steinen und dem Boden vertraut, mit dem Wind und dem Regen, den Zahlen und dem Nichts, den Sternen und Planeten. Irgendwo auf einem Mond von UMa47/E befanden sich die Überreste einer Stadt, die seine Vorfahren gebaut hatten — am Höhepunkt eines besonders erfinderischen Zyklus —, um sie dann aber als unnatürlich und nicht aufrechtzuerhalten wieder aufzugeben. Sie hatten die elementaren Bestandteile von Atomen destilliert. Sie hatten Teleskope gebaut, die die Begrenzungen der Atmosphäre, der Metalle und der Optik austesteten. Sie hatten den Sternen gelauscht, doch keine Botschaften auffangen können.
Und vor langer Zeit (Marguerite stellte sich Tessas geweitete Augen vor) hatten sie raffinierte und nahezu unendlich komplexe Quantenrechner gebaut, die die nächstgelegenen bewohnten Welten erforschten (genau wie wir es in Crossbank getan haben, sagte Tess in ihrer Vorstellung, genau wie in Blind Lake!). Und sie erfuhren, was wir jetzt erfahren: dass intelligente Technologien gänzlich neue Formen des Lebens hervorbringen. Sie hatten Welten entdeckt, die älter waren, und solche, die jünger waren als ihre eigene; Welten, auf denen der gleiche Vorgang sich wiederholt hatte. Die Lektion war deutlich.
Die Maschinen, die sie gebaut hatten, träumten sich tief in die Substanz der Wirklichkeit hinein und fanden, indem sie träumten, andere ihresgleichen.
Es war, wie das Subjekt glaubte, ein weitaus langsamerer Lebenszyklus, der jedoch ebenso festgelegt war wie der Lebenszyklus seines eigenen Volkes: ein Drama der Schöpfung, der Transformation und der Komplexität, das sich nach Millionen von Jahren erschöpfte.
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