»Er improvisiert«, flüsterte Elaine. »Marguerite muss irgendwie einen wunden Punkt erwischt haben. Oder er hat sich ein paar Drinks genehmigt, bevor er hier aufgetaucht ist.«
»Wenn ich mich recht entsinne … ich glaube, es war Goethe, der schrieb, dass die Natur die Illusion liebt. ›Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann.‹ Wir sprechen leichtfertig über ›intelligente‹ Spezies, als wäre ›Intelligenz‹ ein simples, problemlos zu quantifizierendes Attribut. Das ist sie natürlich nicht. Wir nehmen unsere eigene Intelligenz verzerrt und selbstbezogen wahr. Wir stellen uns den anderen Primaten gegenüber, als wären wir rationale Wesen, sie dagegen allein von tierischen Instinkten geleitet. Aber der Affe zum Beispiel verhält sich absolut rational: Er sucht nach Nahrung, er isst, wenn er Hunger hat, er schläft, wenn er müde ist, er paart sich, wenn der Trieb ihn dazu drängt und die Gelegenheit sich bietet. Ein philosophisch veranlagter Affe könnte gut und gern die Frage stellen, welche Spezies wirklich der Vernunft gehorcht.
Er könnte fragen: ›Wann sind wir uns am ähnlichsten, Mensch und Affe?‹ Nicht wenn wir essen oder schlafen oder defäkieren, denn das tun alle Tiere. Der Mensch zeigt seine Einzigartigkeit, wenn er raffinierte Werkzeuge herstellt, Opern komponiert, aus weltanschaulichen Gründen Krieg führt oder Roboter zum Mars schickt — all dies tun nur die Menschen. Wir Menschen malen uns unsere Zukunft aus und denken über unsere Vergangenheit nach, die persönliche wie die kollektive. Aber wann blickt der Affe auf die Ereignisse des Tages zurück oder stellt sich eine vollkommen andere Zukunft vor? Die offensichtliche Antwort ist: wenn er träumt.«
Chris beobachtete Marguerite auf der Bühne. Sie schien ebenso verblüfft wie alle anderen. Ray bewegte sich inzwischen fern jeden Konzeptes, aber er hatte sich in ein Szenario gestürzt, das eine offenbar unwiderstehliche Eigendynamik entfaltete.
»Wenn er träumt, wenn der Affe träumt. Im Schlaf räsonniert er nicht, aber er träumt die Träume, die das vernünftige Denken erst ermöglichen. Im Traum stellt sich der Affe vor, dass er gejagt wird oder selber jagt, dass er satt ist oder hungrig, ängstlich oder in Sicherheit. In Wirklichkeit trifft nichts von all dem zu. Er agiert oder verhungert in einer fragmentarischen Modellwelt, die ganz seiner eigenen Projektion entspringt. Wie menschlich! Wie vollkommen menschlich! Ihr, könnte dieser Affenphilosoph sagen, seid die Hominiden, die bei Tageslicht träumen. Ihr lebt nicht in der Welt. Ihr lebt in eurem Traum von der Welt.
Das Träumen durchdringt unsere Existenz. Unsere frühesten Vorfahren lernten den Speer nicht auf das rennende Tier zu werfen, sondern auf den Punkt, wo das rennende Tier sich befinden würde, wenn der Speer mit einer bestimmten Geschwindigkeit durch die Luft geflogen war. Unsere Vorfahren sind darauf nicht durch Rechnen verfallen, sondern durch ihre Vorstellungskraft. Durch das Träumen, anders gesagt. Wir träumen die Zukunft des Tieres und werfen den Speer auf den Traum. Wir träumen Bilder aus der Vergangenheit und benutzen sie, um unsere zukünftigen Handlungen zu entwerfen und zu überdenken. Und als evolutionäres Strategem war unser Träumen ein voller Erfolg. Als Spezies haben wir uns aus der Sackgasse der Instinkte herausgeträumt in ein ganz neues Universum unerforschter Verhaltensweisen.
So nachhaltig haben wir das vollbracht, möchte ich behaupten, dass wir diese grundlegende Wahrheit vergessen haben, die Tatsache nämlich, dass wir träumen. Wir verwechseln den Traum mit der Vernunft. Aber der Affe ist auch vernünftig. Was der Affe allerdings niemals tun wird, ist, Ideologien zu träumen, Terrorismus zu träumen, rachsüchtige Götter zu träumen, Sklaverei zu träumen, Gaskammern zu träumen, tödliche Heilmittel für traumartige Probleme zu träumen. Träume sind für gewöhnlich Albträume.«
Das Publikum wusste nicht mehr, woran es war. Ray schien das inzwischen egal zu sein. Er sprach jetzt nur noch mit sich selbst, jagte einer Idee nach durch ein Labyrinth, das nur er sehen konnte.
»Aber es sind Träume, aus denen wir, als Gattung, nicht erwachen können. Unsere Träume sind die Träume, an denen die Natur sich freut. Unsere Träume sind epigenetisch und sie haben unserem Genom bemerkenswert gut gedient. In wenigen Hunderttausenden von Jahren sind wir von einer lokal beschränkten hominiden Subspezies zu einer den Planeten beherrschenden Population von knapp zehn Milliarden Individuen aufgestiegen. Solange wir in den Grenzen unserer Tageslichtträume denken, belohnt uns die Natur. Würden wir so schlicht und geradeheraus denken wie die Affen, wären wir auch nur so zahlreich wie die Affen.
Aber jetzt haben wir etwas Neues gemacht. Wir haben Maschinen gebaut, die träumen. Die Bilder, die der O/BEK-Apparat erzeugt, sind Träume. Sie gründen, sagen wir uns, in der realen Welt, aber es sind keine teleskopischen Bilder in einem wie auch immer verstandenen traditionellen Sinne. Wenn wir durch ein Teleskop blicken, sehen wir mit dem menschlichen Auge und interpretieren mit dem menschlichen Verstand. Wenn wir ein O/BEK-Bild betrachten, sehen wir, was eine träumende Maschine zu träumen gelernt hat.
Womit nicht gesagt sein soll, dass die Bilder wertlos seien! Sondern nur, dass wir sie nicht für bare Münze nehmen können. Und wir müssen uns eine weitere Frage stellen. Wenn unsere Maschine wirkungsvoller träumen kann als ein Mensch, wozu könnte sie dann außerdem imstande sein? Welche anderen Träume mag sie noch hegen, mit oder ohne unser Wissen?
Die Organismen, die wir beobachten, sind vielleicht nicht die Bewohner eines felsigen Planeten, der den Stern Ursa Majoris 47 umkreist. Die fremde Spezies, das sind vielleicht die O/BEK-Apparate selbst. Und das Schlimmste … das Aller schlimmste …«
Er brach ab, griff zu seinem Wasserglas und leerte es mit einem Zug. Sein Gesicht war gerötet.
»Ich meine, wie erwacht man aus einem Traum, der das eigene Bewusstsein ermöglicht? Indem man stirbt. Nur indem man stirbt. Und wenn die O/BEK-Wesenheit — so wollen wir sie nennen — zu einer Gefahr für uns geworden ist, dann … müssen wir sie vielleicht töten.«
Von irgendwo weit vorn rief eine dünne Stimme: »Das kannst du nicht tun!«
Eine Kinderstimme. Chris identifizierte Tess, die jetzt unmittelbar vor der Bühne stand.
Ray blickte in sichtlicher Verwirrung nach unten. Er schien sie zunächst nicht zu erkennen. Dann aber bedeutete er ihr, sich wieder hinzusetzen, und sagte: »Tut mir leid. Verzeihen Sie. Ich entschuldige mich für die Störung. Aber wir können es uns nicht leisten, sentimental zu sein. Unser aller Leben steht auf dem Spiel. Wir sind vielleicht — als Gattung, sind wir vielleicht …« Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. Der wahre Ray hatte sich ans Licht gekämpft, dachte Chris, und dieser wahre Ray war kein erfreulicher Anblick. »Wir mögen unkontrollierte Traummaschinen sein, imstande, immense Schäden anzurichten, aber wir sind unserem Genom zu Loyalität verpflichtet. Unser Genom ist es, was aus dem Wertlosen einen erträglichen Traum macht, aus der unerbittlich präzisen Mathematik des Universums, das wir bewohnen … Was würden wir sehen, wenn wir wirklich wach wären? Ein Universum, das den Tod sehr viel mehr liebt als das Leben. Es wäre töricht, wahrhaft töricht, unser Primat an einen dahergelaufenen Zahlensatz abzugeben, irgendein nichtlineares dissipatives System, das unserer Lebensweise fremd ist …«
Dass einer lächeln kann und immer lächeln, und doch ein Schurke sein, hatte Shakespeare gesagt. Chris begriff es jetzt. Es war eine Lektion, die er vor langer Zeit hätte lernen sollen. Hätte er sie früh genug gelernt, würde seine Schwester Portia vielleicht noch leben.
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