»Hör auf, so zu reden!«, kreischte Tess.
In diesem Moment schien Ray zu erwachen, schien zu begreifen, dass er etwas Seltsames getan, sich vor Publikum in eine peinliche Lage gebracht hatte. Sein Gesicht war ziegelrot.
»Was ich sagen will …«
Das Schweigen zog sich hin. Unter den Zuhörern erhob sich Gemurmel.
»Was ich sagen …«
Ari Weingart machte einen zögernden Schritt vom Bühnenrand in die Mitte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Ray. »Ich bitte um Verzeihung, falls ich irgendetwas gesagt habe … falls ich mich missverständlich … Diese Versammlung …«
Er wedelte mit der Hand, schlug dabei das leere Wasserglas vom Rednerpult. Es zerschellte spektakulär auf den Bühnenbrettern.
»Diese Versammlung ist zu Ende«, knurrte Ray ins Mikrofon. »Sie können alle nach Hause gehen.«
Er stakste hinter die Kulissen. Sebastian Vogel begann aufgeregt in seinen Pocket-Server zu flüstern. Marguerite kletterte von der Bühne und lief zu ihrer Tochter, um sie zu trösten.
Sue Sampel hatte soeben die Ausdrucke in ihre ursprüngliche Reihenfolge zurückgeordnet, als ihr Server klingelte.
Das eigentlich eher leise Geräusch nahm sich in der Stille von Rays Büro geradezu dröhnend aus. Sie fuhr zusammen, der halbe Papierstapel glitt ihr aus den Händen und verstreute sich über den Boden.
»Scheiße!«, sagte sie, dann kramte sie ihr Klapptelefon aus der Tasche. »Ja?«
Es war Sebastian. Ray habe die Bühne verlassen, sagte er. Schwer angefressen offenbar. Kaum vorherzusagen, wo er hinwolle.
»Danke«, sagte Sue. »Hol mich draußen vor dem Eingang ab, in fünf Minuten.« Sie sammelte die Papierbögen wieder ein — sie hatten sich in einem breiten Kreis verstreut, einige waren auch unter den Schreibtisch gerutscht — und brachte sie in eine grobe Annäherung von Ordnung. Keine Zeit mehr, größere Sorgfalt walten zu lassen. Auch wenn nicht unbedingt damit zu rechnen war, dass Ray im nächsten Moment durch die Tür gestürmt kam, waren ihre Nerven bis zum Äußersten gespannt. Sie schloss den Ordner in Rays Schreibtischschublade ein, verließ sein Büro, packte die Sachen zusammen, die sie auf ihren eigenen Schreibtisch gelegt hatte, eilte dann hinaus in den Flur und machte die Tür hinter sich zu.
Die Fahrt im Fahrstuhl dauerte ungefähr eine Ewigkeit, aber die Eingangshalle war leer, als sie endlich ankam, und Sebastian war bereits draußen vorgefahren. Sie hechtete ins Auto und sagte: »Schnell, fahr los!«
Der Wind hatte seit dem Morgen zugenommen. Auf den weiten Wiesen zwischen der Stadt Blind Lake und den Kühltürmen von Eyeball Alley fiel frischer Schnee.
Ray verließ das Auditorium ohne bestimmtes Ziel, saugte erst einmal die in Böen heranwehende bitterkalte Luft ein, nachdem die Türen sich hinter ihm geschlossen hatten. Klarheit gegen Schmerz eintauschen.
Auf der Bühne hatte er einen Fehler gemacht. Nein, schlimmer noch. Er hatte sich vollkommen vergaloppiert. Diese lächerliche Abschweifung über Affen und Menschen.
Nicht dass die Gedanken nicht stichhaltig gewesen wären. Aber die Vortragsweise war zu selbstversunken, fast manisch gewesen.
Zum Teil war das auch Marguerites Schuld. Diese fromme kleine Rede von ihr hatte nach Richtigstellung verlangt. Aber er hätte nicht nach dem Köder schnappen sollen. Ray war normalerweise immer imstande, ein Publikum in seinen Bann zu schlagen, und es schmerzte ihn, dass er diesmal so völlig die Kontrolle verloren hatte. Muss am Stress liegen, dachte er.
Stress, Frustration, eine ansteckende Verrücktheit. Ray hatte die Ausdrucke aus Crossbank sehr genau gelesen und seine Diagnose lautete: Wahnsinn als übertragbare Krankheit. Hier in Blind Lake konnte es natürlich auch jederzeit anfangen; hatte vielleicht sogar schon angefangen; es war kein Scherz gewesen, als er Marguerites Rede als Symptom bezeichnet hatte.
Schneeflocken schlängelten sich durchs Einkaufszentrum, wanden sich im Wind. Ray hatte seine Jacke hinter der Bühne im Gemeindezentrum liegen lassen, aber noch einmal zurückzugehen, um sie zu holen, kam nicht infrage. Ray beschloss, einen halben Block weiter in seinem Büro Schutz zu suchen, ein paar Telefonate zu führen, eine Schadensabwägung vorzunehmen, herauszufinden, wie tief er sich in die Scheiße geritten hatte durch diesen Anfall auf offener Bühne. Irregeleitete Gedanken vagabundierten noch immer in seinem Kopf herum. Tageslichtträume.
Er durchquerte die Eingangshalle der Plaza und nahm einen leeren Fahrstuhl hinauf in den sechsten Stock. Auf der Fahrt schmolz der Schnee in seinen Haaren zu Perlen. Ihm war schwindlig, nachgerade übel. In seinen Ohren vibrierte ein summendes, nicht enden wollendes Geräusch. Okay, er hatte sich zum Affen gemacht, aber kam es darauf langfristig, oder sogar auch kurzfristig, überhaupt noch an? Falls niemand lebend aus Blind Lake herauskam (und er hielt das für eine reale Möglichkeit), welche Bedeutung hätte sein Anfall dann noch? Hatte er eben einen schlechten Eindruck auf die leitenden Forscher gemacht. Na, und wenn schon! Er spielte keine Karrierespielchen mehr.
Er besaß noch immer gute Voraussetzungen, um zu überleben. Er würde diese Krise sogar in relativ guter Form überstehen können, sofern er jetzt das Richtige tat. Was war das Richtige? Die O/BEKs zu töten, dachte Ray. Zu spät, um breite Unterstützung dafür aufzubauen, aber die Grundlagen hatte er gelegt, und wahrscheinlich wäre es ihm sogar gelungen, noch einige Leute zu bekehren, wenn Marguerite ihn nicht provoziert hätte. Wenn er sich nicht in einem Labyrinth von zweitrangigen Gedanken verirrt hätte. Wenn Tess ihn nicht unterbrochen hätte.
Vor der Tür zu seinem Büro blieb er abrupt stehen.
Tess.
Er hatte seine Tochter vergessen. Hatte sie im Saal zurückgelassen.
Er zog seinen Server aus der Hemdtasche und sprach Tessas Namen aus.
Sie ging sofort ran. »Dad?«
»Tess, wo bist du?«
Sie zögerte. Ray versuchte eine Bedeutung in die Pause hineinzulesen, aber es gelang ihm nicht. Dann sagte sie: »Ich bin im Auto.«
»Im Auto? Wessen Auto?«
»Ähm … Mamas.«
»Du gehst erst Montag wieder zu deiner Mutter zurück.«
»Ich weiß, aber …«
»Sie hätte dich nicht mitnehmen sollen. Das war nicht richtig. Das war ganz und gar nicht richtig, dass sie das getan hat.«
»Aber …«
»Hat sie dich gezwungen, Tess? Hat deine Mutter dir befohlen, in ihr Auto zu steigen? Du kannst es mir ruhig sagen. Falls sie zuhört, gib mir einfach einen Hinweis. Ich versteh dich dann schon.«
In klagendem Ton: »Nein! So war es nicht. Du bist weggegangen.«
»Nur für ein paar Minuten, Tess.«
»Das wusste ich ja nicht!«
»Du hättest auf mich warten sollen.«
»Außerdem hast du all diese Sachen gesagt, dass du sie töten willst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich würde deiner Mutter niemals etwas tun.«
»Was? Ich meinte, als du auf der Bühne warst! Du hast darüber gesprochen, Mirror Girl zu töten!«
»Ich habe …« Er brach ab, zwang sich zur Ruhe. Tess war empfindlich und im Moment, dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, ziemlich verängstigt. »Ich habe Mirror Girl gar nicht erwähnt. Du musst mich falsch verstanden haben.«
»Du hast gesagt, wir müssen sie töten!«
»Ich habe über den Prozessor im Auge gesprochen, Tess. Gib mir bitte mal deine Mutter.«
Wieder eine Pause. »Sie will nicht mit dir reden.«
»Sie muss dich zu mir bringen. Das steht in der Vereinbarung, die wir beide unterschreiben haben. Ich muss ihr das klarmachen.«
»Wir fahren nach Hause.« Tess schien den Tränen nahe. »Es tut mir leid!«
»Ihr fahrt zu deiner Mutter nach Hause?«
»Ja!«
»Sie darf nicht …«
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