Das ist der Grund, warum es so wichtig ist, den Fokus weiterhin auf das Subjekt zu richten.« Solange wir's noch können, fügte sie im Stillen hinzu. »Noch vor wenigen Monaten konnte man mit guten Gründen behaupten, dass das Leben des Subjekts einem monotonen, sich stets wiederholenden Programm folgte, über das wir alles in Erfahrung gebracht hätten, was sich in Erfahrung bringen lässt. Die jüngsten Ereignisse haben diese Behauptung widerlegt. Das Leben des Subjekts, dessen Struktur wir für rein zyklisch gehalten hatten, ist in hohem Maße narrativ geworden, zu einer Erzählung, die wir vielleicht bis zu ihrem Abschluss verfolgen und aus der wir mit Sicherheit eine Menge lernen können.
Wir haben bereits eine Menge gelernt. Zum Beispiel haben wir die Ruinen von 33/28 gesehen, eine verlassene Stadt — wenn ich dieses Wort gebrauchen darf —, die offenbar älter ist als die Heimatstadt des Subjekts und sehr verschieden in der Bauweise. Und auch darin deutet sich eine Erzählung an. Es deutet daraufhin, dass die architektonischen Grundsätze der Eingeborenen flexibel sind; dass sie Wissen erworben und angesammelt haben, das sie unterschiedlichen Zwecken entsprechend anwenden.
Es deutet, kurz gesagt und sofern noch Zweifel bestehen, darauf hin, dass die Eingeborenen in der Tat Leute sind — Wesen, die den Menschen intellektuell und moralisch ähnlich sind — und dass die aussichtsreichste Möglichkeit, ihre Erzählung zu verstehen, darin liegt, sie auf unsere eigene zu beziehen. Auch wenn der Vergleich nicht in jedem Fall schmeichelhaft für uns ausfallen mag.«
Das war ihr großes Schlusswort. Ihre herausfordernde, aufmüpfige These. Das Problem war nur, dass sich niemand so ganz sicher zu sein schien, ob sie tatsächlich zum Schluss gekommen war. Sie räusperte sich erneut und sagte: »Das war's, danke sehr«, und kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Beifall erhob sich hinter ihr. Er klang höflich, wenn auch nicht gerade überschäumend vor Begeisterung.
Ari ging ans Rednerpult, dankte ihr und kündigte Ray an.
Sue Sampel saß zwanzig Minuten lang an ihrem Schreibtisch im Vorzimmer von Rays Büro und vermittelte den in die Wand eingelassenen Videomonitoren einen schwer beschäftigten Eindruck.
Sie hatte sich ein wenig Arbeit zurückgelegt, um ihre Anwesenheit plausibel erscheinen zu lassen. Nicht, dass es sonderlich viel Arbeit, die diesen Namen verdiente, wirklich gegeben hätte. Diese Berichte waren ja doch ein schlechter Witz: Berichte nämlich, die die tagtäglichen Banalitäten der Betriebsorganisation in Blind Lake dokumentieren sollten und auf deren Verfertigung Ray gesteigerten Wert legte. Diese Berichte hatten keinen anderen Adressaten als einen Ordner mit der Kennzeichnung ZURÜCKGESTELLT — bis wann zurückgestellt, bis zum Ende der Welt? —, aber sie konnten als Alibi dienen für den Fall, dass irgendwann die Frage gestellt würde, was Ray während der Abriegelung getrieben hatte. Sie hatte den Eindruck, dass Ray viel Zeit darauf verwendete, sich für derartige Fragen zu wappnen.
Sie behielt ihre Desktop-Uhr im Auge. Um halb zwei begann sie sehr auffällig in Papieren und Dateien zu stöbern, als vermisse sie irgendetwas. Und müsse daher in Rays Büro gehen, um es dort zu suchen. Es kam ihr lächerlich unrealistisch vor, wie eine Schüleraufführung.
Oder ein schlechter Film. Und in diesem Film, dachte Sue, wäre dies der Zeitpunkt, wo plötzlich jemand hereinspaziert käme und sie überraschte … wahrscheinlich Schulgin, oder sogar Ray selbst, Ray mit einer Pistole in der Hand …
»Sue?«
Sie biss sich auf die Zunge, dann brachte sie ein »Aua!« zustande, das unter Umständen entfernte Ähnlichkeit mit einem »Hallo« besaß.
Es war nicht Ray. Es war Gretchen Krueger, die unten im Archiv arbeitete.
»Hätte nicht gedacht, dass du heute im Büro bist«, sagte Gretchen. »Ich wollte nur gerade ein paar ältere Ausgaben des JAE einsammeln und hab gesehen, dass deine Tür offen ist. Ist Ray auch da?«
»Nein. Ich muss hier nur kurz was fertigmachen. Nur fehlt mir dummerweise andauernd irgendwelches Zeug.« Das Alibi noch ein bisschen fester zurren.
»Wenn ich hier fertig bin, treffe ich mich im Sawyer's mit Jamal und Karen. Möchtest du nicht auch kommen? Wir würden uns freuen.«
»Danke, aber was ich heute Nachmittag brauche, ist eine Dusche und ein Schläfchen, und sonst gar nichts.«
»Das Gefühl kenne ich.«
»Amüsiert euch trotzdem, Gretch.«
»Alles klar. Mach dir keinen Stress, Sue. Du siehst müde aus.«
Gretchen schlenderte durch den Flur davon und Sue begann erneut, all ihren Mut für den Überfall auf Rays Bürozimmer zusammenzunehmen. Zuerst aber zog sie die Tür zum Flur ganz zu. Ihre Hand zitterte, stellte sie fest.
Dann hinein in Rays Allerheiligstes und aus dem Blick der Überwachungskameras.
Zuerst zog sie einen Aktenordner aus dem Wandregal — irgendeinen Ordner, ganz egal, Hauptsache, sie hatte etwas unverfänglich Aussehendes, das sie wieder nach draußen tragen konnte. Dann ging sie zu seinem Schreibtisch, steckte ihren Schlüssel ins Hauptschloss und öffnete nacheinander alle fünf Schubladen.
Die Ausdrucke waren in der unteren linken Schublade gestapelt, wo er die DingDongs aufbewahrt hatte, bevor sie ausgegangen waren. Wie sie Ray kannte, hatte er wahrscheinlich die Krümel mit dem Staubsauger entfernt. Jetzt hatte er schon eine ganze Weile keine DingDongs mehr gehabt. Er musste schwer auf Entzug sein.
Sie nahm den ersten Bogen zur Hand.
Von: Bo Xiang, Crossbank National Laboratory
An: Avery Fishbinder, Blind Lake National Laboratory
Text: Hi, Ave. Wie versprochen, hier ein bisschen Vorabinfo zu dem Material, das wir auf der diesjährigen Konferenz präsentieren werden. Tut mir leid, wenn ich mich nicht klarer äußern kann (ich weiß, dass Sie nicht überrumpelt werden möchten), aber uns wurde eingeschärft, uns hierüber bedeckt zu halten, bis es offiziell gemacht wird. Um es kurz zu fassen: Wir haben Hinweise auf eine untergegangene intelligente Zivilisation auf HR8832/B gefunden. Screenshots werden noch folgen, aber in der nördlichen Hemisphäre gibt es eine Region voller Basalterhebungen, mit sehr flachem Wasser und einigen exponierten Inseln, unterscheidet sich oberflächlich nicht von Hunderten solcher Sumpfgebiete, birgt aber Überreste von offensichtlich sehr anspruchsvoll konstruierten Gebäuden, darunter ein typisches Verbindungsstück oder jedenfalls ein architektonischer Verweis auf die über den Äquator verstreuten »Korallenschwimmer«. Sind uns noch nicht schlüssig, wie das mit dem Fehlen beweglicher Fauna unter einen Hut zu bringen ist: Gossard stellt ein lange zurückliegendes Massenaussterben zur Debatte …
Um Gottes willen, schalt sich Sue, du sollst es nicht lesen. Sie warf einen verstohlenen Blick zur Tür. Sie war allein, aber das konnte sich jederzeit ändern.
Sie zog ihren Server aus der Tasche, stellte ihre heimische Schnittstelle ein und aktivierte die Scan-Funktion. Der Server war ein Modell im Bleistiftstil, exakt genauso breit wie die Standardpapiergröße. Sue fuhr mit der fotoempfindlichen Seite über das Dokument, bis per Piepton eine vollständige Übertragung angezeigt wurde. Dann der nächste Bogen. Und der nächste. Es waren eine Menge Papiere. Sie sah auf die Uhr. Es war fast zwei. Sie würde vielleicht noch zwanzig Minuten brauchen. Oder länger.
Beruhige dich, wies sie sich an und scannte den nächsten Ausdruck.
Von seinem Platz am Rande des Gangs beobachtete Chris, wie Ray sich erhob und ans Rednerpult trat.
Chris hatte das Gefühl, es sei wichtig, dass er den Mann richtig einschätzte. Es gab tausend Möglichkeiten, wie er in eine weitere Konfrontation mit Ray Scutter geraten konnte. Falls es dazu kam, wollte er die Sache nicht verbocken. Und es gab tausend Möglichkeiten, die Sache zu verbocken.
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